Seit mehreren Jahren findet in der Öffentlichkeit eine kontroverse und in großen Teilen geradezu groteske Diskussion um die neue Rechtschreibung im Deutschen statt.
Der Rechtschreibreform vorausgegangen war eine siebenjährige Beratung von Sachverständigen aus allen deutschsprachigen Staaten, die sich 1994 auf einen Reformvorschlag einigten. Ihr Vorschlag wurde offiziell, als im Sommer 1996 in Wien eine "Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" unterzeichnet wurde, wonach in Schulen und Behörden ab dem 1. August 1998 nach den neuen Regeln geschrieben werden, die neue Schreibweise aber erst ab 2005 allgemeine Gültigkeit erhalten sollte.
Dies war gleichsam der Startschuss für einen bizarren Streit um Sinn und Unsinn der Rechtschreibreform, an dem sich weniger Fachleute als Laien beteiligten und der in Feuilletons, Boulevardzeitungen, Talkshows und Gerichtssälen ausgetragen wurde. Gerade die Prozesse, die von vorgeblich "wohlmeinenden" Eltern und Deutschlehrern angestrengt wurden, führten dazu, dass die Durchsetzung der neuen Schreibweise unsicher schien: das Bundesland Schleswig-Holstein blieb bei der alten Rechtschreibung und in Einzelfällen setzten Eltern per Gerichtsbeschluss durch, dass ihre Kinder - anders als deren Klassenkameraden - gemäß den alten Regeln vom Lehrer korrigiert wurden.
Genau ein Jahr nach ihrer Einführung an Schulen und Behörden stellten die Nachrichtenagenturen und die meisten Medien auf die neue Rechtschreibung um und eine gewisse Ruhe kehrte in die Diskussion ein. Damit ist es allerdings im Sommer 2000 wieder vorbei: Zunächst kamen Gerüchte auf, dass der Duden in seiner neuen Ausgabe die Reformen zurücknähme, und schließlich kehrte die Frankfurter Allgemeine Zeitung( FAZ) am 1. August zur alten Rechtschreibung zurück.
Die FAZ begründete dies paradoxerweise mit dem unguten Nebeneinander mehrerer Orthografien, obwohl ihre Rückkehr zu den alten Regeln einem solchen Nebeneinander gerade Vorschub leistet. Nichtsdestotrotz solidarisierten sich der Hochschulverband und die Akademie für Sprache und Dichtung mit der FAZ und natürlich meldeten sich auch die unvermeidlichen Dichter und Schriftsteller unter den Reformgegnern wieder zu Wort. Gerade letztere erwecken den Anschein, als ginge es in dieser Frage um den Erhalt der deutschen Sprache oder gar Kultur selbst und nicht um die Vereinfachung der Kommaregeln und Beseitigung von Ausnahmen.
Die interessanteste Frage im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform ist allerdings, wieso ein derart sekundäres Thema soviel öffentliche Aufmerksamkeit erregt, den Zorn zahlreicher Intellektueller und Schriftsteller weckt und warum die Reformgegner eine bemerkenswerte Unterstützung in der Bevölkerung mobilisieren können.
Es scheint im Lichte der heutigen Diskussion zunächst merkwürdig, dass sich bei Umfragen in den 70-er und 80-er Jahren eine Bevölkerungsmehrheit für eine Reform der deutschen Rechtschreibung aussprach, weil diese als zu kompliziert wahrgenommen wurde. In den 70-ern befürworteten viele der Intellektuellen, die heute als Reformgegner von sich reden machen, eine Rechtschreibreform, die wesentlich tiefer greifen sollte, als es die aktuelle tut. So gehörte zum Beispiel Günter Grass zu denjenigen, die für die Kleinschreibung eintraten, wonach nur noch Satzanfänge und Eigennamen groß geschrieben werden sollten - wie in fast allen Sprachen der Welt üblich.
Die Argumentation für eine solche Reformierung der Rechtschreibung stellte damals die Schüler in den Mittelpunkt: den Deutschlernenden sollte das Schreiben erleichtert werden, durch die Kleinschreibung sollte mit Grass‘ Worten ein "Schüleralptraum" beseitigt werden und allgemein waren die Reformvorschläge explizit mit der Hoffnung verbunden, dass gerade Arbeiterkindern hierdurch der Zugang zu höheren Schulen und Universitäten erleichtert würde. Natürlich war die Rechtschreibung auch damals eine nebensächliche Frage bezüglich der Chancengleichheit von gesellschaftlich Benachteiligten, aber es ist bemerkenswert, dass sie im Kontext dieser Debatte aufkam.
Auffällig ist, dass in der heutigen Debatte die Situation von Deutschlernenden kaum eine Rolle spielt und vor allem von den Reformgegnern vollkommen vernachlässigt wird. Auch wenn sich die aktuelle Reform im Vergleich zu den Forderungen der 70-er Jahre geradezu zaghaft ausnimmt, kann niemand bestreiten, dass beispielsweise die vorgenommene Reduzierung von 57 auf neun Kommaregeln, die Zulassung zweierlei Schreibweisen für Fremdwörter oder die eindeutige Regelung des ß-Gebrauchs eine Vereinfachung des Lernens darstellt. Der Streit um die Reform, der von ihren Gegnern aufrecht erhalten wird, dreht sich allerdings am wenigsten um die Chancengleichheit von Arbeiterkindern, sondern geht von einem kulturkonservativen Standpunkt aus, der durch eine Änderung der Rechtschreibregeln eine Verflachung der deutschen Sprache befürchtet.
Jedoch nicht nur die prominenten Verteidiger der alten Schreibweise haben seit den 70-ern eine Verwandlung durchgemacht, in der aus den einstigen Streitern für eine gerechtere Gesellschaftsordnung Verteidiger des Status quo wurden. Auch der Inhalt und die Wahrnehmung von Reformen im allgemeinen hat sich grundlegend gewandelt. Galten in den 70-ern Reformen noch als Maßnahmen, die den Lebensstandard der großen Masse der Bevölkerung heben, so hat sich ihre Bedeutung heute in das Gegenteil verkehrt: "Reform" bedeutet in der Regel und für die meisten Menschen eine Verschlechterung ihrer Lage.
Neben der intensiven Kampagne, mit denen ihre Gegner das Meinungsbild beeinflussen, und dem Unwillen, etwas mühevoll Erlerntes einer Revision zu unterziehen, mag dies ein Grund sein, warum heute nach Umfragen eine Mehrheit die Rechtschreibreform ablehnt. Während allerdings eine Opposition zu Steuer-, Renten- und Gesundheitsreform einige tiefere Überlegungen und eine Perspektive erfordert, bietet sich die Rechtschreibreform als Ventil an, um gegen die "selbstherrlichen Bürokraten" und ihre "Schreibverordnung" (Günter Wallraff) vom Leder zu ziehen. Zudem spricht sich jeder, der halbwegs richtig schreiben kann, in der Frage Sachverstand zu und das Thema an sich lädt zur Pedanterie ein.
Dies gilt um so mehr für die professionellen Schreiber, die mit erstaunlichem Einsatz gegen die neuen Regeln mobil machen. Dabei ändert sich ihre Arbeit durch die Rechtschreibreform nur marginal oder gar nicht. In Zeiten der elektronischen Textverarbeitung und Fehlerkorrektur können Zeitungsredaktionen darüber hinwegsehen, wenn ein Mitarbeiter die (neue) Rechtschreibung nicht perfekt beherrscht. Was die Schriftsteller und Dichter betrifft, so sind und waren sie nicht an starre Regel gekettet - was man beispielsweise bei Arno Schmidt bewundern kann - und kein Verleger wird sie dazu zwingen, sich ihnen zu unterwerfen.
Wenn sie die Reform als "nationales Unglück" (Marcel Reich-Ranicki) brandmarken oder die Wiedereinsetzung der alten Schreibwiese durch die FAZ als "Schritt einer Rückkehr zur deutschen Kultur" (Stefan Heym, Peter Hacks, Hermann Kant) begrüßen, dann hat dies andere Gründe. In vielen Beiträgen der Reformgegner zur Debatte ist ein nationalistischer Unterton nicht zu überhören. Sie sehen in der Reform einen Angriff auf die deutsche Sprache und Kultur und mystifizieren die alten Rechtschreibregeln zu einem Kulturgut, das über Jahrhunderte aus der Gemeinschaft der Deutschsprachigen heraus gereift sei, und an dem sich jetzt gewissenlose Bürokraten vergreifen, ja der deutschen Sprache Gewalt antun würden.
Dies ist natürlich bodenloser Unsinn. Erst 1903 kam es zu einer Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung und diese erste Festschreibung von Regeln für das Deutsche war das Werk einiger Studienräte, die damit beauftragt waren, der orthografischen Anarchie ein Ende zu bereiten. Fortan unterstand die Anwendung der Regeln auf unabsehbare Einzelfälle dem Duden, einem privaten Verlag, der keinerlei demokratischer oder öffentlicher Kontrolle unterlag. Die Regeln selbst durfte der Duden nicht ändern, was mit dazu beitrug, dass sich über ein knappes Jahrhundert eine Vielzahl von Widersprüchen und Absurditäten ansammelten, die die jetzige Reform zumindest teilweise glättet. Diese Entstehungsgeschichte der alten Rechtschreibung ist kein Geheimnis.
Im Übrigen ist ein Eingriff in die Rechtschreibung kein Eingriff in die Sprache und die Ausdrucksfähigkeit im Deutschen. Orthografie und Sprache gleichzusetzen ist eine Dummheit, die gerade Schriftstellern nicht unterlaufen sollte. Eine Filosofie wird immer noch nach ihrem Inhalt, ihrer Aussagekraft beurteilt und nicht nach der Anzahl der in ihr verwendeten Phs.
Das nationale Pathos und der leidenschaftlichen Einsatz der Reformgegner verweisen in Wirklichkeit darauf, dass sie keine - und erst recht keine fortschrittliche - Antwort auf die wirklich wichtigen gesellschaftlichen Probleme haben. Es ist kein Zufall, dass Intellektuelle wie Grass, Enzensberger, Kempowski u.a., die früher für ihre progressive Haltung in sozialen Fragen bekannt waren, in den letzten Jahren eher durch ihren Standpunkt in einer an sich so nebensächlichen Frage wie der Rechtschreibreform aufgefallen sind, als dass man von ihnen irgendeine Stellungnahme zur sozialen Krise, zur rasanten Rechtsentwicklung oder zu anderen brennenden gesellschaftlichen Fragen vernommen hätte.
Seine Verwirrung und Hilflosigkeit angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung brachte der Schriftsteller Durs Grünbein in einer Stellungnahme zur Rechtschreibreform ungewollt zum Ausdruck: "In Wirklichkeit ging es von Anfang an nur um Globalisierung, ein rein marktwirtschaftliches Kalkül, den Anschluss der schwierigen deutschen Sprache an die lingua universalis der Gebrauchsanweisungen, der Märkte und Börsen. Ich bin froh, wenn der Spuk ein Ende hat."
Wenn die Globalisierung als Spuk empfunden wird, bedrohlich und unerklärbar, dann bietet sich das Nationale, Traditionelle als Rückzugsgebiet an. Die Intellektuellen regen sich über die Rechtschreibreform auf, weil ihnen auf die wirklich drängenden Fragen die Antworten fehlen. Und weil ihnen vor allem eine progressive Antwort fehlt, bekommt ihre Ablehnung der neuen Orthografie eine nationalistische Färbung.