Ost-Timor und die Protestler

Zehntausende haben sich in den vergangenen Wochen an Protestdemonstrationen in den Städten Australiens beteiligt, um ihre Empörung über das brutale Vorgehen indonesischer Milizen in Ost-Timor zum Ausdruck zu bringen. Viele misstrauten der Howard-Regierung, die nun auf eine UN-"Friedenstruppe" unter australischer Führung drängte. Immerhin weiß man doch, wie eng Australien in den vergangenen 25 Jahren mit dem blutrünstigen indonesischen Regime zusammengearbeitet hat.

Doch die Organisatoren der Proteste - die Gewerkschaften, die Kirchen, die Führung Ost-Timors und die kleinbürgerlich-radikale Democratic Socialist Party (DSP) - haben sich wie ein Mann hinter das politische und militärische Establishment in Australien gestellt und unterstützten dessen neuen Kurs: "Sofortige Entsendung von australischen UN-Truppen!", "Beendet das Morden, Friedenstruppen jetzt!"

Bob Gould, der bereits in den sechziger und siebziger Jahren Bündnisse gegen den Vietnamkrieg organisiert hatte, eröffnete den Medien, dass die Tragödie in Timor seine Ansichten "grundlegend verändert" habe.

"Normalerweise fordere ich keinen Truppeneinsatz, aber dieses Mal bin ich dafür", sagte er. "Meiner Überzeugung nach sollte Australien intervenieren, wenn nicht in Form einer ausgewachsenen Invasion, dann zumindest zur Rettung und Evakuierung der Leute."

Während die gesamte Presse diese Forderung wiederholte, bestürmte Premierminister Howard in den vergangenen Wochen die Regierungen in Asien, Amerika und Europa, einer solchen australisch geführten Einsatztruppe zuzustimmen. Unterdessen warfen ihm zuhause die Kundgebungsredner vor, seine Regierung sei zu "zurückhaltend" und "zögerlich".

Wenn Australien tatsächlich Soldaten entsenden sollte, behaupteten sie, dann nur aufgrund des Drucks von unten, der Howard zwingen werde, sich an einer "humanitären" Lösung für das vom indonesischen Militär dirigierte Massaker zu beteiligen. "Wenn die Bewegung stark genug würde, um eine Intervention zu erzwingen, dann wäre dies ein gewaltiger Sieg - nicht nur für den Unabhängigkeitskampf Ost-Timors, sondern auch für alle Solidaritätsbewegungen in Australien", schrieb die DSP in ihrer Zeitung Green Left Weekly.

In Wirklichkeit unterscheiden sich die heutigen Ziele, welche die australische Regierung zum Eingreifen veranlassen, nicht von jenen früheren, die sie mit anderen Mitteln verfolgte. Ihre Motive sind die erheblichen ökonomischen und strategischen Interessen Australiens, insbesondere seine Beteiligung an den lukrativen Öl- und Gasreserven vor der Küste Timors, die in einem eigenen Vertrag (Timor Gap Treaty, 1989) mit der indonesischen Junta abgesichert worden sind.

Die Katastrophe, die über die Bevölkerung Ost-Timors hereingebrochen ist, stellt für Canberra einfach einen willkommenen Anlass dar, zur weiteren Sicherung dieser Interessen eine taktische Wende zu vollziehen.

Ein Brief an das World Socialist Web Site, der unsere Opposition gegen eine Militärintervention in Ost-Timor angreift, fasst die Ansichten des gesamten Milieus der Ex-Radikalen zusammen. Daher lohnt es sich, ihn Punkt für Punkt zu beantworten.

Der Autor schreibt:

"Alle, die sich genauer mit der Krise befasst haben, fordern eine Friedenstruppe als EINZIGE Möglichkeit, das Volk von Ost-Timor zu retten. Ihr jedoch sprecht von einem ‚Vorwand‘. Es WIDERSPRICHT den Geschäftsinteressen Australiens, Ost-Timor zu retten, und gerade deshalb zögert die australische Regierung so stark, ebenso wie die USA."

Australiens "Zögern"

Der tatsächliche Ablauf zeigt, dass sich die australische Regierung bereits seit längerer Zeit auf eine Intervention vorbereitet. Im März erklärte Verteidigungsminister John Moore vor dem Parlament, er stelle die größte Frontexpedition seit dem Vietnamkrieg zusammen. "Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten verfügt Australien wieder über eine Einsatzbereitschaft von Truppen in der Stärke von zwei Brigaden. Die Verantwortung der Regierung und unsere Absicht besteht darin, dass wir auf eine ganze Reihe verschiedener Möglichkeiten in jedem Falle schlagkräftig reagieren können."

Seit Juni befinden sich im nordaustralischen Darwin, nur 600 km von Ost-Timor entfernt, rund 7000 Soldaten in hoher Alarmbereitschaft. Gerade diese Einsatzbereitschaft hatte den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Mittwoch zu dem Beschluss veranlasst, dass Australien in der Lage sei, eine UN-"Friedenstruppe" anzuführen, und dass die Operation von Darwin aus vorgenommen werden solle.

Die Regierung hatte die Truppenkonzentration eingeleitet, nachdem sie mithilfe ihrer ausgefeilten Abhörtechniken über gesteigerte Aktivitäten der von Indonesien unterstützten Milizen in Ost-Timor erfahren hatte.

Mittlerweile sind zahlreiche Berichte erschienen, die belegen, dass die australische und zahlreiche weitere Regierungen bereits seit Monaten wussten, was hier vorbereitet wurde.

Beispielsweise berichtete der britische Observer am 12. September:

"Dokumente, Geheimdienstunterlagen und Augenzeugenberichte zeigen, dass die Gräuel in Ost-Timor beinahe ein ganzes Jahr lang von der indonesischen Armee sorgfältig geplant worden sind. Ihr Ziel besteht ganz einfach darin, eine Nation zu zerstören. Unsere Recherchen haben außerdem ergeben, dass die westlichen Geheimdienste die Pläne der Armee ebenfalls bereits schon seit Monaten kannten und die UN warnten."

Er fährt fort: "Am 4. März teilte der in Jakarta stationierte militärische Geheimdienst Australiens seinem Hauptquartier mit, dass das indonesische Militär ‚die Milizen eindeutig schützt und in einigen Fällen mit ihnen zusammenarbeitet‘. Die australische Regierung leitete diese vernichtende Information an die Vereinten Nationen weiter."

Im März begann Australien eine doppelgleisige Politik in die Wege zu leiten. Vorzugsweise wollte die Regierung wie gehabt ihre Zusammenarbeit mit dem indonesischen Militär fortsetzen und Ost-Timor - sowie dessen Bevölkerung - fest in den Händen Indonesiens belassen. Die Regierung hielt daran fest, dass die indonesischen Soldaten während des Referendums in Ost-Timor verbleiben sollten, obwohl sie sehr genau wusste, dass die Milizen bereits Gräueltaten begingen.

Sowohl Australien als auch Indonesien hofften, dass die Armee mit dieser Taktik die Bevölkerung Ost-Timors derart einschüchtern würde, dass sie gegen die Unabhängigkeit stimmen würde. Im Juli wurde klar, dass diese Rechnung nicht aufging.

Der Oberserver schreibt: "In einem Dokument des [indonesischen] Innenministeriums an den zuständigen Minister für Politik und Sicherheit heißt es: ‚Noch ist Zeit, der Situation zu begegnen, doch diese Zeit läuft aus, ohne dass sich Hoffnung auf einen Sieg der Option 1 (Autonomie) abzeichnen würde. Westtimor muss sich darauf vorbereiten, eine große Zahl Flüchtlinge und Sicherheitspersonal aufzunehmen. Die Evakuationsrouten müssen geplant und gesichert werden."

Daraufhin schwenkte die australische Regierung auf ihre Option 2 ein: den Einsatz eigener Truppen in Ost-Timor, um die "Stabilität" und die Verteidigung ihrer Wirtschaftsinteressen zu gewährleisten.

Nun brauchte man nur noch eine hinreichende "humanitäre Tragödie", um die öffentliche Meinung für einen Militäreinsatz zu gewinnen. Sobald das Ausmaß der ethnischen Säuberung in der Weltöffentlichkeit bekannt wurde, begann Howard zu drängen.

Sein Erfolg wurde gebührend gefeiert. Piers Ackerman jubelte in Murdochs Daily Telegraph: "Indonesiens Einverständnis mit einer internationalen Friedenstruppe in Ost-Timor... ist Australiens größter außenpolitischer Coup seit... dem Ende des Zweiten Weltkriegs... Kein Teilnehmer der APEC hegt den geringsten Zweifel, dass Australien die Weltmeinung im Falle Ost-Timors geprägt hat, und nicht wenige Führer der Welt staunen über den Nachdruck, mit dem Australien seinen Ansichten Geltung verschaffte."

Howards "Nachdruck" rührt aus der allmählich dämmernden Erkenntnis, dass Australien im Zeitalter nach dem Kalten Krieg eine eigene Militärpräsenz in der asiatisch-pazifischen Region errichten muss. Es kann sich nicht länger auf seine alten Nachkriegsbündnisse mit den USA oder Indonesien verlassen. Am Dienstag Abend zitierte Howard den bekannten Ausspruch des britischen Außenministers Lord Palmerston im 19. Jahrhundert: "Es gibt keine bleibenden Verbündeten - nur bleibende Interessen."

Je länger die "Friedenstruppe" in Ost-Timor verbleibt, desto deutlicher wird sich herausschälen, dass das Schicksal der ost-timoresischen Bevölkerung nicht ihr Zweck ist und es niemals sein wird.

Die wehrlosen Frauen und Kinder Ost-Timors

Unser Kritiker schreibt: "Dann - welch ein Witz - fordert Ihr den ‚vereinten Kampf der Massen auf dem gesamten indonesischen Archipel‘ und sonst absolut nichts! In der Theorie ist das sehr schön, und das könnt Ihr vom sicheren Melbourne aus gut schreiben. Der Bevölkerung Ost-Timors aber nutzt es gar nichts!

ES GEHT UM WEHRLOSE FRAUEN UND KINDER, und um tapfere Journalisten sowie UNIMET (sic)-Offiziere, die sie nicht im Stich lassen wollen... und Euch fällt nichts Besseres ein, als auf die schlimme Vergangenheit und auf intellektuelle Theorie zu verweisen."

Tatsache ist, dass gerade die theoretische Orientierung der ost-timoresischen Führung, die von den australischen Protestlern uneingeschränkt unterstützt wird, der Grund für die wehrlose Lage der ost-timoresischen Massen ist.

Nie appellierte der Nationalrat des timoresischen Widerstands (CNRT) an die timoresische Bevölkerung, den Kampf gegen die bewaffneten Banden aufzunehmen, die von der Armee losgelassen wurden. Er richtete auch keinen Appell zum gemeinsamen Kampf an die indonesische Arbeiterklasse und an die Studenten, die sich erst vor 18 Monaten gegen die Suharto-Diktatur erhoben hatten. Er versuchte auch nicht, den Zusammenhang zwischen der Brutalität der Armee gegenüber den Timoresen und dem Einsatz ähnlicher Methoden in ganz Indonesien anzuprangern.

Weshalb wurden keine Verteidigungsorgane gebildet? Wo waren die Guerillakämpfer, als die Massaker stattfanden? Weshalb versuchten sie nicht, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung - die immerhin soeben im Angesicht von Todesdrohungen für die Unabhängigkeit gestimmt hatte - zum Widerstand gegen die Mordbanden zu mobilisieren und zu organisieren?

Einen Teil der Antwort findet man in der Financial Review vom vergangenen Dienstag. Der Verfasser, Peter Hartcher, ist zuständiger Redakteur für Fragen des asiatisch-pazifischen Raumes. Die Überschrift lautet: "3000 Falantil-Guerilleros sehen ruhig zu". Gestützt auf Informationen des CNRT-Führers Jose Ramos Horta berichtet Hartcher, dass die 3000 Guerilleros, "die sich 24 Jahre lang im Dschungel Ost-Timors vor den indonesischen Soldaten verbargen, nun gefasst in einem abgegrenzten Gebiet abwarten - das war eine Bedingung für das Abkommen der Vereinten Nationen vom 5. Mai, mit dem die Abstimmung über die Unabhängigkeit geregelt wurde."

Zweitausend von ihnen befinden sich "in der Truppenunterkunft im Lager Waimori, vier Stunden von Dili entfernt, und ungefähr weitere 1000 in anderen Teilen des Gebiets."

"Eine schier unglaubliche, unglaubliche Disziplin", bemerkte Horta und fügte hinzu, dass die Guerilleros "unter dem Befehl von Xanana Gusmao" stünden.

Hartcher kommentiert: "Es mag vertragstreu bis zur Don Quixoterie erscheinen, sich an Vereinbarungen zu halten, die Indonesien offen gebrochen hat; dennoch handelt es sich um eine sehr kluge Politik. Die internationale Gemeinschaft hat gegen die brutalen Angriffe der indonesischen Armee auf die Bevölkerung Ost-Timors mobil gemacht, weil es sich um einen eindeutigen Fall handelt: die Schwachen und Wehrlosen werden von Starken und gut Bewaffneten unterdrückt. Das moralische Schauspiel ist unverkennbar, das Böse vergeht sich an der Unschuld. Wenn jedoch die Guerilla auf die Gräuel der TNI reagiert hätte, indem sie die umgrenzten Gebiete verlassen und die Kampfhandlungen wieder aufgenommen hätte, dann wären die Unruhen sofort als Bürgerkrieg wahrgenommen worden."

Mit anderen Worten, wenn sich die Falantil, der militärische Arm der Fretilin, den bewaffneten Milizen widersetzt und ihr eigenes Volk verteidigt hätte, dann hätten die Westmächte Ost-Timor fallen lassen.

Und der Appell an eben diese Mächte, nicht etwa die Mobilisierung der Massen, bildet den Grundpfeiler des "Selbstbestimmungskampfes" der CNRT. Dieser läuft in der Realität darauf hinaus, die Unterstützung des Westens für einen Zwergstaat zu gewinnen, dessen Existenz vollkommen von den finanziellen Investitionen und der politischen Anerkennung diverser imperialistischer Mächte abhängt.

Ebenso wie die Tamilen, die Palästinenser und die Kurden sind die Massen Ost-Timors einfach als Faustpfand der Manöver ihrer Führer auf der diplomatischen Weltbühne missbraucht worden.

Die Logik der Militärintervention

Die politische Linie der Demonstrationen schafft die Voraussetzungen, unter denen die Militärspitze an die Verwirklichung lang gehegter Pläne schreiten kann. Jahrzehnte lang hat sie das "Vietnamsyndrom" geplagt - die massenhafte Opposition der Bevölkerung gegen den Einsatz australischer Truppen im Ausland.

Doch nun konnte die Australian Financial Review in ihrem Leitartikel vom Mittwoch feststellen:

"...infolge von Vietnam wurde es Regierungen politisch unmöglich, Militäraktionen im Ausland vorzuschlagen... und die diplomatische Tätigkeit Australiens in der Region verstärkte das innenpolitische Tabu jeder Diskussion über Militärinterventionen in der Region."

Nun ist das "Tabu" dank der Protestlerrufe gefallen: "Troops in!" Außerdem werden die Militärausgaben erhöht - auf Kosten, wie Schatzmeister Peter Costello darlegte, der staatlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales.

Der Leitartikel der AFT weiter: "Die Forderungen nach einem Einsatz in Timor sind ironisch, denn viele derjenigen, die das politische Klima erzeugt hatten, in dem die Armee herunterkam, rufen nun am lautesten nach einer Intervention Australiens. Dieser Ruf zu den Waffen hat zum ersten Mal seit Jahrzehnten dem Standpunkt breite Akzeptanz verliehen, dass Australien zu Militärinterventionen außerhalb seines eigenen Territoriums in der Lage sein sollte. Damit ergibt sich die Möglichkeit eines innenpolitischen Konsens nicht nur zugunsten höherer Militärausgaben, sondern auch für eine veränderte Struktur der Verteidigungskräfte."

Mit anderen Worten, die politische und militärische Elite Australiens ist den Organisatoren der Demonstrationen zu großem Dank verpflichtet. Zum ersten Mal seit mehr als einer Generation kann sie nun ihre Uniformen abstauben, in der gesamten Region militärische Präsenz vorführen und die finanziellen Lasten dafür in vollem Umfang der Arbeiterklasse aufbürden.

Siehe auch:
Der Leserbrief an das wsws im Wortlaut
(17. September 1999)
Australien bereitet Militärintervention in Ost-Timor vor. Was sind die wahren Gründe?
( 11. September 1999)
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