Was steckt hinter der Korruptionsaffäre im Kreml ?

Diskussionen über Korruptionsvorwürfe gegen Russlands Präsidenten Jelzin und dessen "Familie" laufen schon über eine Woche auf Hochtouren. Ausgelöst wurden sie durch drei nahezu gleichzeitig erschienene Veröffentlichungen, die die Korruption in Russland erstmals mit Jelzin persönlich in Zusammenhang bringen.

Zuerst berichtete die italienische Zeitung Corriere della Sera, dass an Jelzins Familie Kreditkarten ausgegeben worden seien und Ermittlungen eingeleitet würden. Bei der schweizerischen Firma Mabetex seien bei einer Durchsuchung Kreditkartenabrechnungen, ausgestellt auf Boris Jelzin als auch auf seine beiden Töchter Tatjana Djatschenko und Jelena Okulowa gefunden worden.

Die Firma Mabetex, die für 335 Millionen Dollar Großaufträge zur Restaurierung von Kreml und Regierungsgebäuden erhalten hatte, habe eine zweistellige Millionensumme auf das Privatkonto von Pawel Borodin bei einer Budapester Bank überwiesen. Borodin ist Leiter der Abteilung für Immobilien und Dienstleistungsbetriebe im Kreml und gilt als der zweite Mann nach Jelzin. Jelzin soll dabei mit einer Million Dollar bedacht worden sein. In den Bilanzen von Mabetex erschienen die Beträge als "ortsübliche Sonderaufwendungen", weil nach schweizerischem Recht Provisionen, die an ausländische Beamte gezahlt werden, nicht versteuert werden müssen, aber Name und Kontonummer des Empfängers anzugeben sind.

Zweitens wurde in der Schweiz in einer Artikelserie die Beschlagnahme von Beresowskis Konten bekannt gegeben, in deren Zusammenhang ebenfalls der Name Jelzin fiel. Beresowski wird beschuldigt, in Verbindung mit einem Schwiegersohn Jelzins 250 Millionen Dollar der russischen Fluggesellschaft Aeroflot veruntreut zu haben.

Drittens berichtete die New York Times über neun Konten bei der Bank of New York, über die mit Wissen Jelzins bis zu 10 Milliarden Dollar für die russische Mafia gewaschen worden seien. In anderen Meldungen werden mittlerweile Beschuldigungen laut, wonach sich die Summe gewaschener Gelder auf 15 Milliarden Dollar belaufen soll und sogar IWF-Gelder direkt in die Taschen der russischen Mafia geflossen sein sollen. Laut der Zeitung USA-Today seien neben zwölf ehemaligen oder jetzigen russischen Regierungsmitgliedern auch Jelzin und Tochter Djatschenko darin verwickelt.

Erst am Freitag, den 3. September 1999, nahm der Corriere seine Berichterstattung wieder auf und veröffentlichte eine Liste mit 24 Namen und Adressen an dem Skandal um die Firma Mabetex beteiligter Russen. Darunter befindet sich ebenjener Pawel Borodin samt Familie, der Regierungsverantwortliche für den einträglichen Zollbereich, Anatoli Kruglow, und auch Oleg Soskowez, der bis zu seiner Entlassung 1996 als Vizepremierminister, Bau-, Energie-, Transport- oder Gesundheitsminister figurierte.

Zeitungen und Nachrichtenagenturen überschlagen sich mit immer neuen und detaillierten Meldungen über die engen Verflechtungen zwischen russischer Politik, Wirtschaft und Mafia. Berichte werden veröffentlicht, die ausführlich den obszönen Reichtum der neuen "Jet-Set-Russen" beschreiben, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Leben in jedem internationalen Nobelkurort mit ihrer byzantinischen Verschwendungssucht beherrschen.

So erschien am 28. August in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel von Rudolph Chimelli unter der Überschrift "Die letzte Supermacht". Chimelli beschreibt in farbiger Sprache die Urlaubsgepflogenheiten der "neuen Russen" - so werden die neuen Reichen Russlands bezeichnet - an der französischen Riviera: Einer von ihnen, Gennadi, bestellt sich am Strand bei strahlend blauem Himmel den teuren Belugakaviar und eine Flasche teuersten Champagner. Aber die "berühmte kleine Kugel aus 24-karätigem Gold, die wegen ihres hohen spezifischen Gewichts in frischem Kaviar versinkt, während sie bei alternder Ware auf der harzenden Oberfläche bleibt, hat Gennadi nicht dabei."

Weiter schreibt er, dass Ferienvillen mit Monatsmieten zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Francs (DM 120.000 bzw. 450.000) bereits Ende Mai völlig ausgebucht seien. Ein Hotelangestellter wird mit den Worten zitiert: "Russen und Amerikaner kämpften um die teuersten Villen der Côte d'Azur. Am Ende haben die Russen gewonnen, denn sie schrecken nicht davor zurück, Preise zu überbieten, und sie mieten auf vier Monate."

Der Kellner eines der Nobelrestaurants "erinnert sich an eine Mahlzeit, bei der die Tischgenossen 23 Flaschen Château Margaux 1971, damals zu 8.000 Francs [DM 2.400] das Stück, bestellten". Im "Hôtel de Paris in Monte Carlo, im Hôtel du Cap in Antibes schrumpfen die Reserven von rarem Château Petrus 1985 und von kostbarem Romanée Conti 1983 - bei Preisen von umgerechnet fast 6.000 Mark die Flasche."

Obwohl all diese Mitteilungen und Schilderungen ein bezeichnendes Licht auf die Politik in Russland seit 1991 werfen, ist in ihnen nichts enthalten, was tatsächlich überraschen würde. In den vergangenen Jahren und insbesondere nach der Finanzkrise vom August 1998 erschienen immer wieder detaillierte Berichte über die Ausmaße von Korruption und Geldwäsche in Russland, und jeder, der die Entwicklungen in Russland auch nur am Rande verfolgt hat, oder wie die russische Bevölkerung am eigenen Leibe zu spüren bekommt, weiß, dass das nur die Spitze des Eisberges ist.

Bewusst wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von IWF, Weltbank und der Mehrheit der westlichen Regierungen eine Politik in Russland betrieben, die mithilfe von Milliardensummen eine ganze Schicht korruptester und krimineller Elemente an die Oberfläche spülte.

Die Zeit fragt in ihrer jüngsten Ausgabe zu Recht: "Warum will jetzt keiner geahnt haben, was jeder wusste?"

Offenbar im Zusammenhang mit den kommenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen kommt es zu verschärften Attacken extrem rechter Teile der amerikanischen herrschenden Klasse, die keinen Sinn mehr in der Fortsetzung der bisherigen Russlandpolitik durch Clinton und Vizepräsident Al Gore sehen. Jene hatten bekanntermaßen die Korruption der Jelzinfamilie gezielt vorangetrieben und diesem den Sieg in den Präsidentschaftswahlen von 1996 mit massiver finanzieller und personeller Unterstützung gesichert. Das wsws berichtete darüber. Al Gore hat lange Jahre mit der sogenannten Gore-Tschernomyrdin-Kommission engste Verbindungen zu dem damaligen russischen Ministerpräsidenten unterhalten, um auf diese Weise der Durchsetzung amerikanischer Interessen Nachdruck zu verleihen.

Ein typisches Beispiel für die "wirtschaftswissenschaftliche" Unterlegung dieser "liberalen" Variante findet sich bei Harvardprofessor Andrei Schleifer, der für seine enge Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Russlandberater und ebenfalls Harvardprofessor Jeffrey Sachs bekannt ist. Letzterer war Anfang der 90er Jahre in Moskau und hatte die Reformpolitik verordnet. In einer OECD-Studie erklären sie ihre Strategie wie folgt: "Gebt einigen Einflussreichen einen legalen Anschein und ermutigt sie, andere auszuschalten, damit sich die Gesamtzahl derer, deren Einflusssphären sich überschneiden reduziert." (The Economics and Politics of Transition to an open Market Economy: Russia, Andrei Schleifer and Daniel Treisman, OECD 1998, S. 18). Auf Deutsch: Gebt einem Teil der Diebe mehr Macht in die Hände, damit er den anderen Teil um die Ecke bringt und wir leichteres Spiel haben!

Der republikanische Fraktionsvorsitzende im amerikanischen Abgeordnetenhaus Dick Armey forderte im Rahmen der Korruptions-"Enthüllungen" eine sofortige Einstellung jeglicher Zahlungen und die Überprüfung aller Geldtransfers von und nach Russland. Die Vertreter von IWF und US-Regierung beteuern dagegen, dass die IWF-Gelder erwiesenermaßen nicht Bestandteil des Korruptionsskandals seien und die Zahlungen an Russland deshalb mit der folgenden Septembertranche in Höhe von 640 Millionen Dollar fortgesetzt würden.

Die rechten Attacken richten sich nicht nur gegen die amerikanische Regierung, sondern auch gegen internationale Institutionen und Absprachen. Diese politische Orientierung hatte sich bereits im Kosovokrieg abgezeichnet, in dem die NATO unter der Führung der USA ohne UN-Mandat handelte und Russland rücksichtslos brüskierte. Damals gelang es der russischen Regierung nur mit europäischer Hilfe, innen- und außenpolitisch halbwegs das Gesicht zu wahren. Während aus Amerika ein Affront nach dem anderen folgte, stand der deutsche Außenminister Fischer in engstem Kontakt zur russischen Führung über den Jugoslawienbeauftragten Tschernomyrdin.

Mit dem steigenden Druck gegen Clinton und Vizepräsident Al Gore, der als demokratischer Präsidentschaftskandidat bei den kommenden Wahlen antritt, erhöht sich die Gefahr für Russland, keine ausländischen Gelder mehr zu bekommen und somit einer seiner wichtigsten Stützen beraubt zu werden.

In europäischen Think Tanks ist man sich auch einig, dass auf keinen Fall eine Destabilisierung Osteuropas zugelassen werden kann, die die Ausweitung der europäischen Interessenssphäre in diese Region gefährden könnte. Der Spiegel zitierte in seiner letzten Ausgabe einen Kanzlerberater: "Und das Schlimmste, was uns passieren kann, wäre das Chaos in Russland."

Aus diesem Grund wird vermehrt auf das in den kommenden Dumawahlen aussichtsreiche nationalistische Bündnis Luschkow-Primakow gesetzt. Der oben erwähnte Zeit -Artikel brachte wie folgt eine weitverbreitete Stimmung auf den Punkt: "Sollen ihm [Primakow] Amerikaner und FAZ weiter ‚trotziges Festhalten an Großmachtpolitik‘ vorwerfen. Lieber eine konservative Großmacht als ein gesetzloses Kartell."

Ein Ende der IWF-Kredite würde Russlands Agonie dramatisch beschleunigen, und die einträglichen Posten der russischen Kamarilla würden direkt auf dem Spiel stehen. Daraus erklärt sich die äußere Eintracht des russischen Establishments: Tschernomyrdin, Tschubais, Luschkow und selbst der "liberale" und als "intellektueller" Gegenpart gehandelte Jablokoführer Grigorij Jawlinskij verurteilten gemeinsam die Vorwürfe aus dem Ausland. In einer bemerkenswerten Erklärung offenbarte Jawlinskij, dass die "hysterischen Unterstellungen, Russland sei eine Kleptokratie, genau so weit von der Wirklichkeit entfernt sind, wie vor wenigen Jahren die euphorischen Lobpreisungen des russischen Wirtschaftskurses" ( Süddeutsche Zeitung, 4. September 1999).

Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow hat Jelzin bereits von Anfang an "persönliche Sicherheit für die Zeit nach seiner Präsidentschaft" zugesichert. Der Grund dafür ist einfach: würde Jelzin untergehen, könnte er verstrickt in einem ganzen Netz von "Wirtschaft, Politik und Mafia" die restlichen Teile mit in den Abgrund reißen.

So haben die Untersuchungen von Exgeneralstaatsanwalt Juri Skuratow nur innenpolitische Bedeutung, denn "gleichzeitig bezweifle ich, dass... durch die russische Mafia, Milliardenbeträge aus internationalen Konten veruntreut worden seien", erklärte er am Donnerstag gegenüber der Presse.

Skuratow war im Frühjahr zweimal von Jelzin entlassen worden, weil er schon zu dieser Zeit den Präsidenten mit der Mabetex-Affäre auffliegen lassen wollte. Jetzt hat sich dieser zwielichtige Mann zu einem der Hauptwortführer in der Kampagne gegen Jelzin erhoben. "Beweise", an denen es in der gegenwärtigen Schlacht nun wirklich nicht mangelt und wonach er selbst Gelder von Felipe Turover bekommen haben soll, weist er nicht zurück. Turover ist ehemaliger Mitarbeiter der schweizerischen Gotthard-Bank und hat mit seinen "Offenbarungen" die Mabetex-Affäre wieder ins Rollen gebracht.

Von den wirklichen Belangen der russischen Bevölkerung redet in diesem Machtpoker indes niemand. Nur mit Mühe gelingt es, in der Nachrichtenflut über die Korruptionsskandale Informationen über die tatsächliche Lage im Lande zu bekommen. Die erhältlichen Informationen sprechen aber ihre eigene Sprache: in der fernöstlichen Region Sachalin ist eine Choleraepidemie ausgebrochen, und bis zum Jahr 2016 soll die russische Bevölkerung um weitere 8 Millionen zurückgehen. Letztere Meldung stützt sich auf eine aktuelle Prognose des russischen statistischen Amtes, wonach zur Beibehaltung des gegenwärtigen Bevölkerungsstandes 100 Frauen 215 Kinder in ihrem Leben zur Welt bringen müssten, eine Quote, die zur Zeit auf 124 Kinder pro 100 Frauen abgesunken ist. In den letzten sieben Jahren ist Russlands Bevölkerung um 2 Millionen geschrumpft.

Eine weitere Meldung dieser Tage stammt vom sozioökonomischen Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften, das Veröffentlichungen des Staatlichen Statistischen Komitees vom November vergangenen Jahres über die Armut in Russland nach oben korrigiert. Demnach leben jetzt 60 statt der bisher angenommenen 42 Millionen Russen unterhalb der Armutsgrenze. Das sind 40 Prozent (!) der Bevölkerung. Der Durchschnittslohn ist auf DM 60 pro Monat abgesunken.

Vor diesem Hintergrund hätte es nicht verwundert, wenn der Bombenanschlag vom Dienstag vergangener Woche in Moskaus Nobeleinkaufspassage tatsächlich eine Verzweiflungstat perspektivloser Jugendlicher gewesen wäre. Der Konsumtempel war 1997 zur 850-Jahrfeier Moskaus für 300 Millionen Dollar fertiggestellt worden.

Auch wenn die "Aufdeckung" der Korruptionsskandale der Bevölkerung keine Lösung für ihren Existenzkampf bietet, so hat sie doch zumindest einem weltweiten Publikum vor Augen geführt, mit welchen Methoden die westliche Politik und Finanzwelt in Russland gearbeitet haben und auf welche Schichten der postsowjetischen Gesellschaft sie sich dabei stützen.

Siehe auch:
Ermittlungen über Geldwäsche in New York beleuchten Verbindungen zwischen westlichen Financiers und russischer Mafia
(28. August 1999)
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