Entsetzen und Ratlosigkeit kennzeichneten die deutsche Öffentlichkeit, als sie am 1. November von der Bluttat des 16-jährigen Berufsschülers Martin Peyerl in Bad Reichenhall erfuhr.
Für Deutschland war es das erste Mal, dass ein Jugendlicher sich in den Besitz von Waffen brachte und ein derartiges Blutbad anrichtete. Damit zerstörte er schlagartig die noch vor einigen Monaten geäußerte Gewissheit, dass solche Massaker eine amerikanische Besonderheit seien, erklärbar aufgrund der dort herrschenden leichten Zugänglichkeit von Schusswaffen. Die schärferen Waffengesetze in Deutschland schlössen solche Ereignisse aus. Ein folgenschwerer Irrtum, bei dem obendrein verschwiegen wurde, dass sich in Deutschland immerhin 30 Millionen Waffen in privater Hand befinden, wovon nur 10 Millionen registriert sind, mithin zwei Drittel sowieso außerhalb dieser Gesetze stehen, seien sie nun straff oder locker.
Die Formen, in denen angestaute Aggressionen bei Jugendlichen zum Ausbruch kommen, gleichen sich den aus Übersee bekannten und immer häufiger auftretenden zusehends an. Sie sind ein Indiz für die sich ebenfalls angleichenden sozialen und politischen Bedingungen in beiden Ländern. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!
Was war geschehen?
Martin Peyerl zerstörte die Ruhe des als Idylle beschriebenen bayrischen Kurortes nahe der österreichischen Grenze, als er um die Mittagsstunde aus der elterlichen Wohnung heraus zahlreiche Schüsse auf Passanten und Besucher des gegenüberliegenden Krankenhauses abgab. Dabei tötete er zwei Personen und verletzte acht weitere schwer. Eines der angeschossenen Opfer erlag zwei Tage später auf der Intensivstation seinen Verletzungen. Zuvor hatte er schon seine 18-jährige Schwester mit fünf Schüssen zu Tode gebracht. Am Ende richtete er sich selbst mit einer Schrotflinte. Fünf Tote und sieben zum Teil schwer Verletzte - dies ist die Bilanz des dreißigminütigen Gewaltausbruches.
Die Waffen hatte der Jugendliche dem zuvor erbrochenen Waffenschrank des Vaters entnommen, der als ehemaliger Zeitsoldat der Bundeswehr in der Reservistenkameradschaft des Ortes und in verschiedenen Schützenvereinen Mitglied ist und über die Berechtigung zum Besitz der Waffen verfügt.
Die Presse, die Polizei und die Politik waren bemüht, in der sich anschließenden, eher verhalten geführten Debatte die Ursachen ausschließlich in den individuellen Problemen des Jungen und seinem näheren, insbesondere familiären Umfeld ausfindig zu machen.
"Das Motiv liegt in der Persönlichkeit des Täters", erklärte der mit den Ermittlungen beauftragte Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese, ohne dass er dies näher belegte. Bei der Durchsuchung der Wohnung waren eine Reihe Videos und CDs mit gewaltverherrlichendem Inhalt sowie Nazisymbole an den Wänden und in den Aufzeichnungen des Jungen gefunden worden.
Seine Mitschüler, danach befragt, sagen aus, er sei "leise und introvertiert" gewesen, einer, "der dauernd verarscht worden ist". Der Kriminologe Christian Pfeiffer spricht in einem ZDF-Interview davon, der Täter sei "ein Verlierertyp, in sich gekehrt, isoliert" gewesen. "Videos, in denen Menschen genauso etwas exerzieren, lösen Hemmungen, lassen sie in eine Traumwelt eintauchen."
Die Krone setzt der Berliner Tagesspiegel drauf, der fragt, ob der Typ des Amokläufers nicht vielleicht "für das Ewigmenschliche, für das sogenannte Böse, das sich immer wieder Bahn bricht" stünde, und kommt zu dem Schluss: "Womöglich bleibt seine Tat unerklärlich, trotz aller Anstrengung."
Bei Betrachtung der Familie gerät der Vater ins Visier, der, gerade arbeitslos geworden, dem Alkohol über die Maßen zuspricht. Familiäre Krisen müssen also unvermeidlich sein und einen labilen Jungen zum Äußersten treiben. Hinzu kommt, dass auch im Zimmer der Schwester ein Bild von Hitler an der Wand entdeckt wurde, was uns einen in der Familie geduldeten rechtsradikalen Hintergrund des Jungen nahe legen soll.
Es soll hier ganz sicher nicht das Bild einer heilen Welt in der Familie Peyerl gezeichnet werden. Doch eine genauere Betrachtung lässt die Erklärungsversuche als recht dürftig erscheinen und zeigt in Wirklichkeit den krampfhaften Versuch, zu verhindern, dass die Ursachenforschung auf die Gesellschaft als Ganzes ausgedehnt wird.
Die Illustrierte stern hat in ihrer Ausgabe der letzten Woche eine politisch zwar oberflächliche, aber sehr ausführliche Darstellung des Hergangs der Tat und der unmittelbaren Umstände gegeben, die eine solche Einschätzung bestätigt.
In der Tat war Martin Peyerl unter der Gruppe Jugendlicher seines Umfeldes das, was man ein schwarzes Schaf nennt. Er wurde seiner abstehenden und spitzen Ohren wegen oft "Spocki" genannt, nach dem Vorbild des Mr. Spock aus der Fernsehserie Raumschiff Enterprise. Auch "Glöckner von Notre Dame" war eine Bezeichnung für ihn aufgrund seines leichten Buckels. Er zog sich aus der Gesellschaft Gleichaltriger zurück, war verschlossen und schweigsam, nahm nie an einer Klassenfahrt teil. Doch teilte er damit nur das Schicksal Tausender anderer, die aufgrund körperlicher oder geistiger Unvollkommenheit ausgegrenzt werden.
Seine Zukunftsaussichten waren aber nicht ungünstig. Zumindest konnte er unter hundert Bewerbern eine Ausbildungsstelle bei der Saline in Bad Reichenhall als Industriemechaniker ergattern. Sein Ausbildungsmeister bestätigte ihm Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Außerdem sei er ruhig und unauffällig gewesen.
"Erhebliche familiäre Probleme", wie Psychologen spekulieren, waren nicht erkennbar. Der Vater schlug sich seit seiner Dienstzeit in der Bundeswehr mit zeitlich befristeten Jobs durch, von denen zwar der letzte am Tag vor der Bluttat endete, eine neue Anstellung als Hausmeister aber bereits in Aussicht stand. Auch hat niemand gewagt, ihn einen Alkoholiker zu nennen. Er hätte ein "medizinisches Alkoholproblem", heißt es. Doch ein solches hat jeder, der allabendlich sein Bier zum Fernsehen trinkt. Sicher sind solche Bedingungen alles andere als stabil und beruhigend, doch außergewöhnlich sind sie auch nicht.
Die Schwester lebte die meiste Zeit bei ihrem Freund außerhalb der Stadt. Sie war Erzieherin behinderter Kinder. Man sagt ihr soziales Engagement nach, sie sei immer auf Seiten der Schwachen gewesen. Verbindungen zu rechtsradikalen Tendenzen bezeichnen Freunde als "ausgemachten Blödsinn". Das Hitlerbild über ihrem Bett stammt von Martin, der es selbst gezeichnet hatte und das Zimmer längst zu seinem gemacht hatte.
Die Beziehung Vater-Sohn war in Wirklichkeit sehr gut. Sie arbeiteten viel zusammen in Haus und Garage. Der Sohn durfte sogar mit dem Vater gemeinsam sein Talent als Schütze beweisen.
Das dürfte auch der Grund für sein gewachsenes Selbstvertrauen gewesen sein, wie es von seinem Freund in den letzten Wochen beobachtet worden war. Er sprach jetzt oft begeistert von den Schießübungen, kleidete sich in Bomberjacke und Springerstiefel. Dass sich dieses Selbstvertrauen in einer Faszination für Hitler und die Nazis niederschlug, entsprang weniger dem häuslichen Milieu als dem gesellschaftlichen Klima in Deutschland und in der Welt. Laut Aussage des Freundes war die politischste Bemerkung, die Martin je von sich gab: "Ausländer, die etwas verbrochen haben, gehören ausgewiesen." Eine Aussage, die beinahe jeder Politiker in Deutschland ohne Gewissensbisse unterschreiben würde.
Eine Bemerkung sei vielleicht noch angebracht in Bezug auf die Behauptung, dass der Konsum von gewaltverherrlichenden Video- und Computerspielen eine solche Tat hervorbringen würde. Ganz sicher verfehlen Spiele dieser Art das Prädikat "pädagogisch wertvoll" um Längen, doch erreichen sie kaum die Vorbildwirkung, die die Wirklichkeit selbst zu bieten hat. Mitschüler des Jungen wussten jedenfalls zu berichten, dass er von den beiden Amokläufern Eric Harris und Dylan Klebold schwärmte, die im April dieses Jahres in einer High School in Colorado zwölf Mitschüler und einen Lehrer getötet und anschließend sich selbst erschossen hatten.
Martin Peyerls Schicksal ist nichts Einmaliges und schon gar nichts Neues. Die bürgerliche Gesellschaft treibt seit ihrem Bestehen immer wieder Menschen in die Isolation und Verzweiflung. Dass sich aber diese Verzweiflung in einem Massaker wie in Bad Reichenhall entlädt, lässt auf grundlegend veränderte Bedingungen in der Gesellschaft, auch und gerade in Deutschland schließen, auf Bedingungen, die allgemein unter dem Begriff "amerikanische Verhältnisse" zusammen gefasst werden.
Amerikanische Verhältnisse - das sind nicht einfach Anzahl und Umfang von Gewalttaten, wie sie in Amerika bereits an der Tagesordnung sind. Amerikanische Verhältnisse - das sind vor allem eine wachsende Polarisierung der Gesellschaft, Abbau demokratischer Rechte, Umschichtung öffentlicher Gelder weg von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben wie Bildung, Gesundheit und Kultur hin zur Sicherung der freien Entfaltung der Marktkräfte in privatem Interesse. Dazu kommt eine zunehmend rücksichtslose Außenpolitik zur Wahrung nationaler, sprich: der in der Nation herrschenden Interessen.
In Deutschland mag die Kluft zwischen Arm und Reich noch hinter der amerikanischen zurückstehen, aber nur Ignoranten können sie übersehen. In der Tendenz ist sie auf alle Fälle unverkennbar.
Fast sechs Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen, jedes fünfte Kind zwischen 14 und 17 Jahren zählt zur Armutsbevölkerung, etwa eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind in Deutschland arm. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in unsicheren und prekären Verhältnissen. So geht es aus dem jüngsten Armutsbericht der Caritas hervor.
Gleichzeitig nannte schon 1993 das obere Zehntel der Bevölkerung 41 Prozent des gesamten Geld- und Immobilienvermögens in Deutschland sein eigen. Dieses Gesamtvermögen hat sich seit dieser Zeit verdoppelt, womit bisher immer ein Ansteigen des Anteils der Reichen einher ging.
Der gewachsene Appetit des deutschen Kapitals auf der internationalen Bühne fordert ein gestärktes militärisches Rückgrat in der deutschen Politik. Kriegseinsätze der Bundeswehr und die immer lauter werdende Stimme des deutschen Militarismus bereiten diese Stärkung vor. Dass sich dabei die Durchsetzung deutscher Interessen der amerikanischen Dominanz in der Welt entgegenstellt, bedeutet mitnichten einen Kampf gegen amerikanische Verhältnisse in Deutschland, sondern hilft sie im Gegenteil zu manifestieren.
Immer deutlicher drängt sich in das Bewusstsein, dass die Wahrung von Interessen die Anwendung von brutaler Gewalt unterstellt. Konflikte auszutragen, heißt, sie mit Waffengewalt auszutragen.
Nicht unwesentlich beteiligt an dem veränderten Bewusstseinsklima dürften die Erfahrungen sein, welche die Bevölkerung mit einer SPD-Grünen-Regierung im letzten Jahr gesammelt hat. Zeit ihrer Existenz waren diese Parteien entweder mit linker, das heißt der wachsenden sozialen Ungleichheit sich entgegen stemmender, bzw. pazifistischer, also Antikriegspolitik in Verbindung gebracht worden. Wenn die Illusionen in beide Parteien auch seit langem beständig zurückgegangen waren, so können sie jetzt nach deren erstem Regierungsjahr als vollständig zerstört gelten.
Nicht nur, dass diese Regierung mit ihrem Sparprogramm, mit Renten- und Gesundheitsreform der einfachen Bevölkerung im Dienste der Wirtschaft den sozialen Krieg erklärt, sondern vor allem auch, dass der erste Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg auf die Entscheidung von SPD und Bündnis90/Die Grünen zurückgeht, hat seine Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen.
Wie soll das Urteil über die Verhältnismäßigkeit der Mittel bei der Konfliktbewältigung nicht aus den Fugen geraten, wenn die scheinbare linke Alternative zur abgewählten CDU-Regierung einen Krieg befürwortet, der sich vor allem dadurch ausgezeichnet hat, dass ein Bündnis aus neunzehn bis an die Zähne bewaffneten Streitkräften die Lebensbedingungen eines 11-Millionen-Volkes in Rauch auflöst?
Insofern ist der Amoklauf von Bad Reichenhall nur individueller Ausdruck des politischen und geistigen Klimas in Deutschland. Und er wird nicht der letzte seiner Art bleiben. Wie zur Bestätigung folgte nur eine Woche nach dieser Tat ein ähnliches Ereignis in einer Schule in der sächsischen Stadt Meißen. Ein maskierter 15-jähriger Schüler überfiel mit einem Messer eine Lehrerin und stach vor den Augen von 25 Kindern etwa zwanzig Mal auf die Frau ein, die noch am Ort starb. Als man den Täter wenig später verhaftete, war er ganz gelassen. Er habe die Lehrerin gehasst.