Idioten ist der jüngste Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier und steht in Einklang mit den Regeln der Dogma 95-Gruppe. Die Dogma-Gruppe wurde im Jahre 1995 von einer Handvoll dänischer Regisseure gegründet; ihre Regeln wurden in einem WSWS -Artikel vom 28. November 1998 diskutiert [http://www.wsws.org/arts/1998/nov1998/vin-n28.shtml]. Die Gruppe hat Regeln aufgestellt, um "künstliche" Effekte zu vermeiden. Ihre Mitglieder verpflichten sich zum Filmen mit Handkameras und zum Verzicht auf künstliche Ausleuchtung, nachträgliche Bearbeitung der Tonspur, das Drehen von Szenen außerhalb ihrer Abfolge usw. Lars von Trier bezieht sich darauf als eine Art Keuschheitsgelübde.
Während die Regeln der Dogma-Gruppe eindeutige Vorteile bieten für junge Regisseure, die erschwingliche Filme produzieren möchten, besteht die Gefahr, daß aus der Not, d.h. dem Kampf um eine Finanzierung von Filmen unabhängig von den großen Konzernen, eine Tugend gemacht wird - die Vorstellung, daß solche primitiven filmischen Mittel die beste Methode seien, um die Wirklichkeit einzufangen. Tatsächlich besteht die wesentliche Kraft des Films in der Vielfalt, in der er die Komplexität der Wirklichkeit verstehen, reflektieren und zur Geltung bringen kann.
In jedem Fall tritt von Triers Keuschheitsgelübde in Idioten sehr stark in Erscheinung durch die wackelige, handgeführte Kamera als eine Art "Verfremdungseffekt"; Aufnahmen gewinnen und verlieren an Schärfe und gelegentlich ragt ein Kameramann in den Blickwinkel der zweiten Kamera.
Idioten handelt von einer Gruppe von Schauspielern und Bekannten Lars von Triers, die unter der Führung Christophers (Stoffers), beschließen, die gesellschaftlichen Normen herauszufordern, indem sie vorgeben "Idioten" zu sein und sich wie geistig behinderte Menschen benehmen. Die Dogma-Regeln verleihen dem Film einen dokumentarischen Charakter, aber tatsächlich basiert Idioten auf einem in nur vier Tagen geschriebenen Drehbuch des Regisseurs. Mehrere führende Schauspielerinnen und Schauspieler Dänemarks treten in Nebenrollen auf. Der Film zeigt mehrere Szenen, in denen die "Idioten" der bürgerlichen Normalität gegenübertreten - zum Beispiel in einem Restaurant, wo zwei von ihnen in ihr Essen sabbern, um die Tische torkeln und die Servietten der verwunderten Gäste entwenden. Einer der Idioten schnappt die Hand von Karen, die dort allein zu Tisch sitzt und aus ihrem Mitgefühl mit den Behinderten beschließt, sie zu begleiten.
Es folgen organisierte Besuche der "Behinderten" und ihrer Betreuer bei einer örtlichen Fabrik und im öffentlichen Schwimmbad. Eine Gruppe von "Idioten" geht in einer wohlhabenden Wohngegend von Haus zu Haus, klopft an die Türen und bittet um Geld im Austausch für ein schlampig gebasteltes Adventsgesteck. An einem Haus wird ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, an der zweiten Tür erhalten sie Geld von einer widerwilligen Mutter und ihrer Tochter. Frustriert von dieser Reaktion verläßt Stoffer die Rolle des "Zurückgebliebenen" und erklärt, daß die Gruppe aufhören und nach Hause gehen solle. An dieser Stelle wird deutlich, daß sie den Luxus genießt, ihre Behinderung ablegen und in die Reihen der alltäglichen Gesellschaft zurückkehren zu können, wann immer sie möchte.
In einigen Szenen scheint der Regisseur den Versuch zu unternehmen, die Gefühle von intellektuell zurückgebliebenen Menschen inmitten eines Klimas von Mißverständnis und Feindschaft ernsthaft darzustellen. Die meisten Szenen sind offensichtlich zum Zwecke der Provokation gestaltet worden - wie zum Beispiel die, wo der "geistig zurückgebliebene" Stoffer gefragt wird, was er sich zum Geburtstag wünscht. Gruppensex, antwortet er, woraufhin die Szene in einer häßlichen, gehemmten Art und Weise umgesetzt wird. Bei einer anderen Gelegenheit treibt sich die Gruppe elendig in den Wäldern herum und Stoffer reflektiert über ihre Ziele: "In jedem steckt ein innerer Idiot." Er fragt: "Was soll man mit einer Gesellschaft anfangen, die immer reicher und reicher wird, aber niemanden glücklicher macht?" Seine Antwort ist, den "Idioten zu spielen". Er erklärt, daß der Idiot der Mensch der Zukunft sei - der Schlüssel zum Glück sei, den inneren Idioten zu befreien und herauszulassen.
Von Trier ist ehrlich genug zu zeigen, daß der Versuch, eine Art Kommune auf der Grundlage der Freisetzung des inneren Idioten zu errichten, zum Scheitern verurteilt ist. Stoffer verlangt von der Gruppe sich zu steigern, die Sicherheit der Gruppe zu verlassen und in ihrer normalen Umgebung, am Arbeitsplatz und in der Familie, den Idioten zu spielen. Der größte Teil der Gruppe (von einem erfahren wir, daß er Arzt ist, ein anderer hält Vorlesungen über Kunstgeschichte) scheitert an dieser Hürde. Eine Reihe von Interviews mit den Schauspielern am Ende des Films sind in die Handlung eingestreut. Die meisten erklären, daß sie von dem ganzen Projekt enttäuscht sind. Einige wollen nichts mehr mit anderen Mitgliedern der Gruppe zu tun haben.
Einzig die "normale" Karen, die sich der Gruppe am Anfang anschloß und, wie später klar wird, selber große Probleme hat, zeigt Begeisterung. Sie fühlt sich durch die Erfahrung mit der Gruppe befreit. Die Beschränkung ihrer "Befreiung" wird am Ende des Films deutlich, als sie zu ihrer Familie zurückkehrt und den Idioten spielt, woraufhin sie von ihrem Mann geschlagen wird. Eine Nahaufnahme ihres blutigen Gesichts zeigt einen Ausdruck vager Selbstzufriedenheit. Damit endet der Film. Die Szene hat ein Element von Enthüllung. Der einen, die geglaubt hat, wird eine sonderbare Art von Erlösung zuteil.
Vielleicht meint von Trier, daß er mit Karens Notlage ein modernes Äquivalent zu Jeanne d'Arc gefunden hat. Zu denen, die ihn am meisten beeinflußt haben, zählt von Trier den dänischen Regisseur Carl Theodor Dreyer, der 1927 mit seinem Film Die Passion der Jungfrau von Orleans berühmt wurde. Unglücklicherweise ist von Triers Werk kindisch und oberflächlich. Man hat den Eindruck, daß der Regisseur versucht hat, sich dem, was er als bürgerliche Verhaltensnormen und Rechtschaffenheit (und die bürgerlichen Art der Filmproduktion) betrachtet, möglichst provozierend entgegenzustellen und zu stören. Das Ergebnis ist schlampig und unklar. Gleichzeitig beinhaltet der Film offensichtlich eine Anzahl autobiographischer Elemente; um Idioten zu verstehen, ist es sinnvoll, sich die Biographie ihres Regisseurs genauer anzusehen.
In der englischen Tageszeitung Guardian bemerkt ein Journalist, daß von Trier der Sohn wohlhabender Eltern ist, die für das Sozialministerium in Kopenhagen arbeiteten. Die Arbeit seiner Mutter beinhaltete die Suche nach Orten, an denen Einrichtungen für geistig Behinderte aufgebaut werden konnten. Dies schlägt sich direkt in einer Szene von Idioten nieder.
Die Eltern von Triers hatten in den 60er Jahren politisch radikale Ansichten und sollen den jungen Lars mit auf Demonstrationen genommen und beifällig mit angesehen haben, wie er die Scheiben von US-Botschaften zerschlug. Von Triers Bruch mit seinem Elternhaus beinhaltete eine Zurückweisung ihrer politischen Konzeption. Lars wandte sich Nietzsche, Strindberg und Bowie zu und fühlte sich immer mehr von der Idee des Glaubens angezogen. Nicht nur Dreyer, sondern auch ein anderer Lieblingsregisseur von Triers, der russische Regisseur Andrei Tarkovsky, hat sich in seinen letzten Filmen zunehmend religiösen Endzeitthemen zugewandt.
Einer der ersten Filme von Triers war die Vollendung eines Projekts, das ursprünglich von Dreyer selbst geplant war: die filmische Umsetzung der Medea, der klassischen griechischen Geschichte über eine Mutter, die ihre Kinder umbringt. Seinen Durchbruch hatte von Trier mit dem Film Breaking the Waves. Erzählt wird die Geschichte eines Arbeiters auf einer Bohrinsel, der einen Unfall hat und durch den Glauben und Eifer seiner hingebungsvollen jungen Frau gerettet wird. Sie befolgt den Befehl ihres kranken Mannes, mit so vielen Männern wie möglich zu schlafen. Dabei stirbt sie, während er auf wundersame Weise geheilt wird.
Ein Regisseur ist nicht aufgrund seiner soziale Herkunft verloren und auf keinen Fall verdammt seine eigenen oder die Fehler seiner Eltern zu wiederholen. Aber von Triers Entwicklung ist kein Zufall und mit Sicherheit keine Ausnahme. Wenn man Idioten gesehen hat, kann man folgern, daß er offensichtlich durch eine Ablehnung oder sogar Verabscheuung der bestehenden Gesellschaft angetrieben wird. Gleichzeitig ist er anscheinend nicht in der Lage einen Weg aufzuzeigen, wie die Gesellschaft auf sinnvolle Art geändert werden kann. Er hat sich für den altbekannten, fadenscheinigen Weg der individuellen Selbstbefreiung entschieden. Das alles hat einen etwas engstirnigen Zug, aber von Trier scheint die Meinung zu vertreten, die auch während der Radikalisierung der 60er Jahre beliebt war, daß geistige Behinderung eine höhere und überlegenere Form der Wahrnehmung beinhaltet. Und wenn dies scheitert, gibt es immer noch den Glauben.
Daß von Triers Filme anregend und provozierend sind, ist unstreitig. Der schon oben erwähnte Journalist des Guardian nennt ihn "den originellsten und herausforderndsten Regisseur, der heutzutage in Europa arbeitet"; man kann für die europäische Filmkultur nur hoffen, daß das nicht der Fall ist. Die einflußreiche Jury der Evangelischen Filmarbeit hat Idioten zum "Film des Monats" erklärt. Tatsächlich ist von Triers Film ein genaues Portrait der Seelenqualen und Frustration eines Teils der Intelligenz, der mit sich selbst unzufrieden ist, aber gleichzeitig unfähig oder unwillig, nach Möglichkeiten einer wirklichen sozialen Veränderung zu suchen - dies ist kein schöner Anblick und auf keinen Fall die Grundlage für eine Erneuerung der Filmkultur.