Die Duma fordert Tschernomyrdins Rücktritt

Die Reaktion Rußlands auf die Besetzung des Kosovo

Die Absprachen zur Beilegung des Kosovokonfliktes, die während der Verhandlungen zwischen dem russischen Sonderbeauftragten für Jugoslawien Wiktor Tschernomyrdin, dem amerikanischen Vizeaußenminister Strobe Talbott und dem Präsidenten Finnlands Martti Ahtisaari erzielt worden sind, wurden von Jelzins Gegnern in der russischen Staatsduma als "Verrat" bezeichnet.

Für die Dumasitzung am 9. Juni wurde eine Resolution eingebracht, in der die Forderung enthalten war, "Präsident Jelzin vorzuschlagen, Wiktor Tschernomyrdin von seinem Amt als Sonderbeauftragten des Präsidenten zur Regulierung des Jugoslawienkonfliktes zu entbinden". Urheber waren Gennadi Sjuganow (KPRF), Nikolaj Ryschkow ("Volksmacht") und Nikolaj Charitonow (Agrarier).

Nach Überzeugung der Verfasser dieses Dokumentes "verfolgt der Sonderbeauftragte eine Linie, die den nationalen Interessen Rußlands zuwiderläuft". Sie sprachen sich darüber hinaus für die Durchführung einer dienstlichen Untersuchung "wegen möglicher Verletzungen der Anweisungen zu den Friedensabsprachen für Jugoslawien durch Wiktor Tschernomyrdin" aus.

In dem Dokument wird betont, daß "das Ultimatum, das der Republik Jugoslawien von den NATO-Ländern unter Beteiligung Wiktor Tschernomyrdins aufgezwungen wurde, zur Kapitulation Jugoslawiens und der Besetzung des Kosovos durch NATO-Truppen führen wird". Während Tschernomyrdin "für seine engen Beziehungen zu führenden Politikern der USA und Deutschlands" bekannt sei, habe man das "Innen- und Verteidigungsministeriums von der unmittelbaren Beteiligung an den Gesprächen" verdrängt, obwohl letztere "für eine Verteidigung der nationalen Interessen Rußlands eintreten."

Die Resolution wurde zwar von der Duma angenommen, doch blieb dies zunächst ohne praktische Konsequenzen, da das jugoslawische Parlament den Bedingungen der NATO ohnehin schon zugestimmt hatte.

Zudem verfängt die nationalistische Propaganda bei der Bevölkerung nicht ohne weiteres. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung steht Umfragen zufolge der Beilegung des Kosovokonfliktes positiv gegenüber. Eine Umfrage vom 5. und 6. Juni ergab, daß fast 60 Prozent der Bevölkerung den unter Beteiligung von Wiktor Tschernomyrdin ausgearbeiteten Friedensplan unterstützt. Dagegen sprachen sich lediglich 21 Prozent der Befragten aus. 75 Prozent der Bewohner Rußlands erklärten sogar ihre Zustimmung zu einer Fortsetzung der Friedensverhandlungen für den Fall, daß es zunächst zu keiner Einigung kommt und die Gespräche platzen.

Wiktor Tschernomyrdin weist alle Vorwürfe zurück und erklärt, daß er völlig richtig gehandelt habe. "Wir haben diese Arbeit in einer Situation begonnen, als der Krieg schon vor unserer Haustür stand. Zu Beginn dieses Jahrhunderts kam es schon einmal dazu, daß wir die Serben mit der Waffe in der Hand unterstützt haben, damals standen wir allein gegen alle anderen. Millionen sind dabei umgekommen. Und jetzt wollen uns schon wieder ein paar Schreihälse eine militärische Einmischung aufdrängen. Wir haben uns nicht darauf eingelassen. Und man kann jetzt sagen, daß der Krieg zunächst abgewendet wurde."

Differenzen innerhalb der russischen Delegation

Der Streit um die Beilegung des Kosovokonfliktes spielt für Rußland eine sehr wichtige Rolle und beinhaltet weitgehende Konsequenzen für die Innen- und Außenpolitik. Die Differenzen gingen so weit, daß sie zu einer Spaltung der russischen Delegation geführt hatten.

Vertreter des Verteidigungsministeriums, der Leiter der Hauptverwaltung für internationale militärische Zusammenarbeit Leonid Iwaschow und der russische Militärvertreter bei der NATO Wiktor Sawarsin grenzten sich offiziell von der Position Wiktor Tschernomyrdins während der Verhandlungen in Bonn ab. Sie beschuldigen den Sonderbeauftragten des Präsidenten zweier unzulässiger Zugeständnisse.

Erstens habe er eingewilligt, daß die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO-Flugzeuge erst beendet werde, wenn die Serben nachweislich begännen, ihre Truppen aus dem Kosovo abzuziehen. Zuvor hatte Rußland auf einer unverzüglichen und bedingungslosen Einstellung der Luftangriffe beharrt.

Zweitens erkannte Tschernomyrdin das Recht der NATO an, die nationale Zusammensetzung ihres Friedenskontingentes selbst festzulegen. Zuvor hatte Moskau vollständig die Forderung Belgrads unterstützt, daß ins Kosovo nur Vertreter jener Länder entsandt werden dürfen, die "nicht an den Aggressionen beteiligt sind".

Die Führung der russischen Delegation versucht diese Differenzen zwischen ihren Mitgliedern zu verschleiern. Tschernomyrdins Berater Walentin Sergejew erklärte: "Wir arbeiten als eine geschlossene Mannschaft auf ein Ergebnis orientiert, das eine friedliche Lösung des Balkankonfliktes erlaubt". Tschernomyrdin selbst sagte, daß er unter strenger Beachtung der Anweisungen des russischen Staatsoberhauptes arbeite. "Wir haben eine Hauptlinie, von der wir nicht abgehen dürfen", erklärte er. Den Worten Tschernomyrdins zufolge könnten einige Delegationsmitglieder ihre eigene Meinung zu den in Belgrad diskutierten Vorschlägen haben, wobei "das ihre Meinung ist, für die sie sich selbst verantworten müssen".

Dennoch lösten die Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Delegation bei der russischen Regierung größte Besorgnis aus. Am 8. Juni traf sich Premierminister Sergej Stepaschin mit Tschernomyrdin und Verteidigungsminister Igor Sergejew in Moskau, um mit ihnen die Kosovofrage zu diskutieren. Nach Beendigung des Treffens erklärte Sergejew gegenüber Journalisten, daß sie einen Vorschlag für Boris Jelzin zur Entsendung eines russischen Truppenkontingents für eine Teilnahme an der Friedensoperation im Kosovo vorbereiten. Dessen Größe könnte sich auf bis zu 10.000 Soldaten belaufen.

Der Verteidigungsminister gab zu, daß die Kosten für eine Truppenentsendung sehr hoch werden können. Er betonte weiterhin, daß weder er noch das Verteidigungsministerium "irgendwelche Differenzen mit dem Sonderbeauftragten des Präsidenten, Wiktor Tschernomyrdin" hätten. "Der Verhandlungsprozeß läuft, und es ist nur natürlich, daß es verschiedenen Meinungen darüber gibt, wie die Präsidentenanweisungen am besten erfüllt werden können."

Der Gebrauch historischer Analogien

Im Westen wird von etlichen Politikern und Kommentatoren als Rechtfertigung für die Bombardierung Jugoslawiens eine Parallele zwischen Milosevic und Hitler gezogen. Das Regime von Milosevic wird mit dem Naziregime in Deutschland gleichgesetzt und die Handlungen der Serben im Kosovo werden als Analogie zum nazistischen Genozid an den Juden angesehen. Dabei werden die barbarischen Bombardierungen der NATO damit gerechtfertigt, ein "neues München" zu verhindern und einem "neuen Hitler" keine Chance zu geben.

Ähnliche Argumente, nur mit umgekehrten Vorzeichen, werden von den russischen Nationalisten ins Feld geführt. Sie betrachten das Verhalten der NATO auf dem Balkan als faschistische Aggression gegen Jugoslawien.

Noch am 2. Juni verurteilte G. Sjuganow auf einer Sonderpressekonferenz der Staatsduma folgendermaßen Tschernomyrdins Mission zur Beilegung des Balkankonfliktes: "Jeder Diplomat erhält, wenn er im Namen des Staates tätig wird, eine Direktive: was ist das Ziel, wie ist der Plan und welche Aufgaben liegen vor? Die Duma und wir haben schon vor langer Zeit unsere Haltung zum Balkankrieg formuliert. Wir denken, daß das eine Schande für den ganzen Planeten ist und daß der NATO-Faschismus unter der Führung des US-amerikanischen Außenministeriums und Clintons Europa faktisch unterworfen hat und ganze Länder zu seinen Satelliten macht."

Die Zeitung Sowetskaja Rossija, das wichtigste Sprachrohr der russischen "volkpatriotischen Kräfte", veröffentlichte am 10. Juni ein Dokument, das von den Führern der Dumafraktionen der KPRF, "Volksmacht" und der Agrarier, Sjuganow, Ryschkow und Charitonow, unterzeichnet ist. In diesem Dokument wird die "finstere Rolle" von Tschernomyrdin "bei der Nötigung Jugoslawiens, das Ultimatum der NATO anzunehmen" scharf angeprangert und erklärt:

"Das ist eine schändliche Einigung, die dem Münchener Abkommen identisch ist, das dem Zweiten Weltkrieg den Weg ebnete. Eine Versöhnung mit dem Aggressor wird ihn unweigerlich zu neuen Eroberungskriegen provozieren. Es kann kein Zweifel darin bestehen, daß das nächste Ziel der NATO-Aggressoren Rußland sein wird."

Unter dem Einfluß dieser Opposition faßte die Duma auf ihrer Sitzung am 9. Juni einen Beschluß "über die Bildung eines Parlamentsausschusses zur Untersuchung und Zusammenfassung der Verbrechen, die während der Aggressionen des nordatlantischen Paktes gegen die Republik Jugoslawien verübt worden sind." Für die Annahme dieses Beschlusses stimmten 247 Abgeordnete, dagegen drei. Der Ausschuß soll aus etwa 20 Abgeordneten bestehen und bis zum 1. Dezember 1999 - d.h. bis unmittelbar vor den Wahlen - tätig sein.

Ebenso wie der Führer der Oppositionsbewegung für die Unterstützung der Armee (DPA) erklärte Wiktor Iljuschin (KPRF), "daß Rußland die Initiative ergreifen soll, ein internationales Gerichtsverfahren zu den Kriegsverbrechen von USA und NATO einzuleiten". Rußland und China, glaubt er, sollten die NATO warnen, daß die "entschiedensten Maßnahmen" ergriffen würden für den Fall, daß die Kriegshandlungen in Jugoslawien fortgesetzt würden. Rußland solle erklären, in diesem Fall möglicherweise aus dem Vertrag über den Verbreitungsstop nuklearer Waffen auszuscheiden und auch einseitig die gegen den Iran und den Irak verhängten internationalen Sanktionen aufzukündigen.

Iljuschin zufolge ist es notwendig, im Rahmen der Union zwischen Rußland und Weißrußland, "der sich Jugoslawien anschließen wird", die Schaffung eines gemeinsamen Raketenabwehrsystems als auch eine mögliche Stationierung von Militäreinheiten in den Mitgliedsstaaten zu erklären.

Die pazifistische Initiative der Liberalen

Vor dem Hintergrund der Aktivitäten in der Duma erachten es die Liberalen für unerläßlich, im Vorfeld der Wahlen auf sich aufmerksam zu machen. Sie versuchen eine selbständige Nische als Friedensstifter zu besetzen, die weder die NATO-Aggressionen (zumindest nicht offen) unterstützt, noch den aggressiven Pathos der Duma.

Am 8. Juni traf einer der Führer der Koalition "Die Rechte Sache", der ehemalige Vizepremierminister Boris Nemtzow, in Brüssel ein, um sich mit NATO-Generalsekretär Javiar Solana zu treffen und ihm mehr als eine Millionen Unterschriften russischer Bürger vorzulegen, die ein Ende der NATO-Aggressionen gegen Jugoslawien fordern. Bereits in der vergangenen Woche ist der LKW mit den Unterschriften aus Moskau abgefahren.

Die Koalition "Die Rechte Sache" hatte ihre Unterschriftensammlung gegen den Krieg begonnen, unmittelbar nachdem Ende März die Friedensreise von Nemtzow, Gaidar und Fedorow nach Belgrad in einem Fiasko geendet hatte. Damals fanden sie von Seiten der serbischen Regierung keinerlei Verständnis.

Ihre Unterschriftensammlung wurde unter der Losung durchgeführt: "Sage Nein zum Krieg im Kosovo, in Europa und in der ganzen Welt!" Unter dieser Losung organisierte die Koalition während der letzten zwei Monate Massenveranstaltungen und Demonstrationen.

In der Mitteilung an Solana, die von den Führern der rechten Koalition Nemtzow, Fedorow, Tschubajs, Gaidar und Chakamada unterzeichnet wurde, wird besondere Betonung darauf gelegt, daß sie "keinen Haß gegenüber dem Westen, aber auch keine besondere Liebe gegenüber dem Milosevicregime empfinden". Sie seien gegen "jeden Krieg" und wüßten sehr genau, daß das "Opfer jeglicher kriegerischer Auseinandersetzungen in erster Linie das einfache Volk ist".

Tschernomyrdins Ernennung zum Sonderbeauftragten des Präsidenten zur Beilegung des Jugoslawienkonfliktes war auf Jelzins Bestrebung zurückzuführen gewesen, die Initiative in der Balkanfrage der Dumaopposition aus der Hand zu nehmen. Jelzin, der jegliche Unterstützung von Seiten des Volkes verloren hat und einen Großteil der herrschenden Elite gegen sich aufgebracht hat, versucht alles, um seine guten Beziehungen zum Westen aufrechtzuerhalten, in erster Linie zu den USA, für die er zu bedeutenden Zugeständnissen bereit ist.

Doch die USA sehen Rußland immer weniger als ebenbürtigen Partner in der internationalen Arena an und sind immer weniger geneigt, Jelzin ihre Unterstützung oder einen Verzicht hinsichtlich der IWF-Forderungen zuzusichern. Die nationalistische Opposition, die das versteht, verstärkt ihren Druck auf den Kreml und versucht, die russische Politik auf eine aggressivere Haltung gegen die NATO zu orientieren.

Nachdem das Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten scheiterte, war es etwas ruhiger in der Duma geworden. Doch jetzt hängt von ihr die Annahme des Gesetzespaketes ab, auf dessen Durchsetzung der IWF besteht. Hinzu kommt, daß der Ruf der neuen Regierung von Anfang an wegen der offensichtlichen Machinationen bei ihrer Bildung unterhöhlt war. All diese Umstände kräftigen die Duma, verstärken die Instabilität und Unberechenbarkeit des russischen politischen Regimes und erhöhen damit die Gefahr neuer internationaler Konfrontationen.

Siehe auch:
Die neue Regierung in Rußland. Erbitterte Machtkämpfe im Vorfeld der Wahlen
(18. Juni 1999)
Was steckt hinter der Absetzung Primakows?
( 21. Mai 1999)
Die Regierungskrise in Rußland
( 21. Mai 1999)
Zwischen IWF und Großrußland. Einige Hintergründe der Rolle Tschernomyrdins als Sondervermittler im Kosovo-Krieg
( 12. Mai 1999)
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