Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit arbeitet das sogenannte Bündnis für Arbeit bereits seit Dezember vergangenen Jahres intensiv an der Einführung eines breiten staatlich geförderten Niedriglohnsektors. Die Pläne stützen sich vorwiegend auf Erfahrungen in den Niederlanden und in den USA und bedeuten eine regelrechte Kampfansage an die große Mehrheit der Bevölkerung.
Nicht nur die Thesen des kürzlich bekannt gewordenen Expertenpapiers sind interessant, sondern auch die Art und Weise in der hier eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft vorbereitet wird.
Mit dem Bündnis für Arbeit wurde neben dem Bundeskabinett und Parlament ein völlig neues Machtzentrum geschaffen, in dem sogenannte Expertengruppen arbeiten, deren Argumente und Entscheidungen für die Regierung weit wichtiger sind, als Parlamentsdebatten oder Ausschußbeschlüsse.
Von der Kohlregierung wußte man, daß sie Politik im Interesse der Unternehmer betrieb. Kanzler Schröder geht noch einen Schritt weiter und fordert die Verbandspräsidenten aus Industrie, Mittelstand und Handwerk auf, selbst die Gestaltung der Politik zu übernehmen.
Leute, die nicht die geringste demokratische Legitimation besitzen und nichts weiter vertreten, als ihre eigenen engstirnigen Interessen und die ihres Wirtschaftsverbandes, sollen über Grundfragen der Politik und damit über das Schicksal von Millionen Menschen und der ganzen Gesellschaft entscheiden. Ein Gremium, das über keinerlei verfassungsmäßige Rechte verfügt und von niemandem kontrolliert wird, übt mehr politische Macht und Einfluß aus, als die gewählten Abgeordneten im Parlament.
Am 22. April warnte die Frankfurter Rundschau in einem Kommentar vor dieser "Bonner Nebenregierung" und wies dabei auch auf die zwiespältige Rolle der Gewerkschaften hin. "Es grummelt und rumort im Parlament und in einigen Gewerkschaften. Das ‘Bündnis für Arbeit', das Bundeskanzler Schröder zum Kernstück seiner Regierung erklärt hat, entwickelt sich zu einer Art Nebenregierung. In ihr sitzen bezahlte Funktionäre, die von niemandem gewählt worden sind und die keine verbindliche Zusage abgeben können, weder für eine zusätzliche Lehrstelle noch für einen Arbeitsplatz."
Es gibt bereits elf Arbeits- und Expertengruppen, die im Unterbau des Bündnisses sehr aktiv sind, d.h. "Denkmodelle", Konzepte und Regierungsvorlagen erarbeiten. Die Fäden laufen in einem sogenannten Steuerungsausschuß - dem "Steering Committee" - zusammen, das bisher von Kanzleramtsminister Bodo Hombach (SPD) geleitet wurde.
Anfang Mai wurden Thesen "Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich" bekannt. Ausgearbeitet waren sie von Rolf Heinze, Soziologieprofessor an der Ruhr-Universität Bochum und nebenberuflich Vertrauensdozent der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und Wolfgang Streeck, dem Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Streeck ist auch ein gefragter Gastredner und Dozent für Gewerkschaftskongresse und -seminare. Während des letzten Bundestagswahlkampfs beriet er Arbeitsminister Walter Riester.
Im Kern bestehen die Vorschläge darin, wegzukommen von tariflichen Regelungen und Schutzbestimmungen, hin zu Flexibilisierung jeder Art, was sowohl die Arbeitszeiten als auch die Löhne betrifft. Möglichst jede Form sozialer Absicherung soll abgeschafft werden, um Arbeitslose zu zwingen, Arbeit jeglicher Art anzunehmen. In ihrem Papier heißt es dazu: "Dienstleistungen brauchen, das zeigen andere Länder, ein anderes Arbeitszeitregime als die Industrie: andere Arbeitszeiten, andere Entlohnungsformen, andere Formen der sozialen Sicherung."
Sie fordern den Abschied von bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Vorruhestandsregelungen, die sie als "Repertoire gescheiterter Methoden" bezeichnen. Ausdrücklich verlangen sie das "Überdenken von Gerechtigkeitsvorstellungen, die aus der Nachkriegszeit stammen", also den Abschied von der bisherigen Form des Sozialstaats mit einer gewissen Absicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter. Statt dessen soll es eine "beschäftigungspolitische Wende hin zu einer Expansion des Dienstleistungssektors" geben, in den ausdrücklich auch Software-Ingenieure, Grafiker, Werber, Anwälte und Berater einbezogen werden.
Der Spiegel unterstützt diese Vorschläge (Ausgabe 19/99) und kommentiert sie mit den Worten: "Deutschland muß endlich auch ein Land werden mit flinken Servicekräften und flexiblen Helfern, mit einem Millionenheer von Dienstleistern - im Handel und bei Versicherungen, im Gesundheitswesen und in der Softwarebranche, in Erholungsparks und bei Botendiensten."
Das eigentliche Beschäftigungsdefizit der deutschen Volkswirtschaft liege im Bereich niedrigproduktiver Dienstleistungsarbeit, behaupteten Heinze und Streeck und werden nicht müde, den bereits viel weiter verbreiteten Dienstleistungssektor und massenhafte Niedriglohnarbeit in den Niederlanden, Dänemark, Großbritannien und den USA als leuchtendes Beispiel für gesunkene Arbeitslosenzahlen anzuführen. Über die krasse soziale Polarisierung in diesen Ländern, vor allen den beiden zuletzt genannten, verlieren sie kein Wort. In Großbritannien und in den USA hat diese Politik zum Wiederauftauchen des gesellschaftlichen Phänomens der working poor(der arbeitenden Armen) geführt. Das bedeutet, daß Millionen Menschen, obwohl sie manchmal zwei bis drei Billigjobs gleichzeitig nachgehen, kaum das Existenzminimum verdienen, um sich und ihre Familien zu ernähren.
"Jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner", "Menschen neigen dazu, sich in Abhängigkeit und Randständigkeit einzurichten, wenn ihnen die Erfahrung vorenthalten wird, daß sie für sich selbst sorgen können" - diese Sprüche sind Bestandteil der ideologischen Kampagne, um Niedriglohnarbeit durchzusetzen. Derartige Auffassung teilen die beiden Professoren mit Bodo Hombach, der das Bild vom "Trampolin als einem Sprungbrett in Eigenverantwortung" geprägt hat gegen die Überreste der sozialen Absicherung, die von ihm und anderen Vertretern der Wirtschaft abfällig als "soziale Hängematte" bezeichnet werden.
Nicht zufällig verdanken Heinze und Streeck ihren Platz im Bündnis für Arbeit indirekt dem Präsidenten des BDI (Bundesverband der deutschen Industrie), Olaf Henkel, wie der Spiegel berichtet. Er forderte, daß die Politik sich - genau wie Siemens oder Bayer - erst systematisch mit der Konkurrenz im Ausland vergleicht und dann das Beste abkupfert.
Eine weitere Forderung dieser Experten lautet: stärkere Lohndifferenzierung und die Befreiung der Niedrigeinkommen von Sozialabgaben, um einfache Arbeiten attraktiver zu machen. Der Spiegel schreibt dazu: "Arbeitskräfte würden billiger, für Arbeitslose stiege der Anreiz zum Wiedereinstieg, weil von jeder verdienten Mark mehr übrigbleibt. So könnten zum Beispiel alle Einkommen unter 1500 Mark komplett von Sozialabgaben befreit werden, bis zum Einkommen von 2800 Mark würden diese Abgaben langsam steigen. Ein solches Konzept würde auch das Problem der 630-Mark-Jobs mit einem Schlag lösen: Diese Form der Billigjobs könnte in einem größeren Niedriglohnsektor aufgehen."
Denjenigen Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern, die sich nicht zur Aufnahme eines Niedriglohnjobs bewegen lassen, soll durch entsprechenden Zwang nachgeholfen werden. So fordert das Thesenpapier alle Empfänger von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, die Jobangebote nicht annehmen, durch Kürzung und Streichung der Unterstützungszahlungen zu bestrafen. Die sich abzeichnende Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und die Politik eines raschen Entzugs von Leistungen bei Ablehnung eines Beschäftigungsangebots müßten, nach Meinung der Autoren, konsequent verwirklicht werden.
Um die Arbeitsvermittlung effektiver zu gestalten, verlangen sie nicht nur eine Verbesserung der Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit. Nach ihrer Meinung sollte sich die Politik auch hier zusätzlich auf den Markt und die "öffentliche Nutzung privatwirtschaftlicher Gewinninteressen" stützen. Sie fordern die stärkere Unterstützung von Zeitarbeitsfirmen, die das nach ihrer Meinung effektiver umsetzen könnten. Die Voraussetzung dafür sei wiederum ein höheres Maß an räumlicher und beruflicher Mobilität von seiten der Arbeitslosen.
Die Vertreter der Gewerkschaften im Bündnis - DGB-Chef Dieter Schulte, DAG-Vorsitzender Roland Issen sowie die Vorsitzenden der IG Metall, Klaus Zwickel, der IG Chemie, Bergbau und Energie, Hubertus Schmoldt und der ÖTV, Herbert Mai - empörten sich vor allem darüber, daß dieses "interne Arbeitspapier" bekannt wurde, bevor es überhaupt in der dafür vorgesehenen Arbeitsgruppe vorgestellt und diskutiert wurde.
IG Metall-Chef Zwickel äußerte Zweifel, daß mit der Subventionierung der Sozialabgaben für Niedriglöhne Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich geschaffen werden könnten. Diesen Niedriglohnsektor gebe es bereits in vielen Branchen, ohne daß dadurch die Zahl der Arbeitsplätze nennenswert erhöht worden wäre. Prinzipiell abgelehnt wird ein Niedriglohnbereich von den Gewerkschaften aber nicht und DGB-Chef Schulte räumte ein, daß im DGB "intern" über eigene Vorstellungen zu einem Niedriglohnsektor diskutiert werde. Vor allem suchen die Gewerkschaften nach einem besseren "unverkrampften Namen" für Niedriglöhne, da allein das Wort "Niedriglohnsektor" bereits Abwehr provoziere.
Die nächsten Bündnisgespräche werden zwar nicht mehr unter der Leitung von Bodo Hombach stattfinden und es ist auch unwahrscheinlich, daß die Vorschläge der Professoren Heinze und Streeck eins zu eins umgesetzt werden. Aber die Richtung, die in ihrem Papier vorgegeben wird, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, um sie zu zwingen auch schlecht bezahlte Tätigkeiten anzunehmen, bestimmt schon jetzt den Kurs der rot-grünen Bundesregierung.