Im April 1998 wurde der 88jährige Maurice Papon von einem französischen Gericht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er zur Zeit des Vichy-Regimes in seiner Funktion als Polizeipräfekt der Gironde die Deportation von 1.690 Juden organisiert hatte.
Der Prozess, der sich über zwei Jahre hinzog, hat internationales Aufsehen erregt, weil er ein wichtiges Kapitel über die Zusammenarbeit des französischen Regimes mit den Nazis aufarbeitete. Er hat aber auch historische Fakten aus einer späteren Zeit aufgewühlt, die bisher weitgehend unbekannt waren und nach dem Willen der politischen Elite Frankreichs besser auf ewig unter Verschluss geblieben wären. Papon, der bis 1981 hohe politische Ämter bis hin zum Finanzminister bekleidete, hat nämlich auch im Nachkriegs-Frankreich ähnliche Verbrechen begangen. Dies enthüllte der Historiker Jean-Luc Einaudi, der als Zeuge der Anklage zur Persönlichkeit des Angeklagten Papon aussagte.
Einaudi ist Verfasser des Buches "La Bataille de Paris, 17 octobre 1961" (éditions du Seuil, 1991). Im Gerichtssaal in Bordeaux brachte er im Oktober 1997 zur Sprache, was 36 Jahre zuvor in Paris geschehen war, als Maurice Papon unter de Gaulle Polizeipräfekt war. Damals wurden auf dem Höhepunkt des Algerienkriegs in der französischen Hauptstadt während einer Demonstration von 30.000 Algeriern, die für die Unabhängigkeit ihres Landes auf die Straße gingen, Hunderte ermordet und fast 12.000 verhaftet.
Polizeipräfekt in Algerien und Paris
Papons politische Karriere begann 1929, als er sich im Alter von 19 Jahren der Studentenorganisation der Radikalsozialisten, einer bürgerlichen Partei, anschloss. Hier lernte er viele seiner späteren Förderer kennen - unter anderen Jacques Soustelle, Maurice Schumann und Georges Pompidou, die sich später zu führenden Figuren des Gaullismus wandelten.
Während der dreißiger Jahre bekleidete Papon Ämter unter verschiedenen Regierungen, darunter auch der Volksfront, um schließlich in den Dienst des Vichy-Regimes zu treten. Wegen den damals begangenen Verbrechen wurde er jetzt verurteilt.
Als im Juni 1944 die Alliierten in Frankreich landen, verschafft er sich rechtzeitig ein Alibi als "Widerstandskämpfer", indem er der Résistance einige Informationen zukommen lässt, und bereitet so die Fortsetzung seiner Karriere im Nachkriegsfrankreich vor.
1956 wird er unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Guy Mollet mit dem Posten des Polizeipräfekten von Constantine in Algerien betraut. Zwei Jahre später ernennt ihn der radikalsozialistische Innenminister Bourgès-Maunoury zum Polizeipräfekten von Paris.
Seine Tätigkeit in Constantine, die Aufrechterhaltung der Ordnung während des Algerienkrieges, zeigt, wozu der Vichy-Funktionär in der Lage ist. Schlimmste Folterpraktiken bei Verhören sind an der Tagesordnung. Bis 1957 werden Tausende Algerier getötet, 114.000 Personen werden in Lager gesteckt, in denen - laut einem von Michel Rocard in Le Monde veröffentlichten Bericht - täglich zwischen fünfzig und sechzig Menschen sterben. Es gibt verbotene Zonen, in denen die Einheimischen Freiwild sind.
Im Gegensatz zu General de la Bollardière, der 1957 aus Abscheu über die Grausamkeiten in Algerien von seinem Posten zurücktritt, fällt Papon durch deren vollkommen kaltblütige Durchsetzung auf. Aus dieser Zeit stammt Papons Auszeichnung zum Offizier der Ehrenlegion; eine erste Auszeichnung hatte er sich bereit 1948 verdient.
1958 steht Frankreich vor dem Bürgerkrieg. Aus Algerien droht General Massu mit einem Staatstreich. General de Gaulle übernimmt die Regierung, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Kurz danach tritt Papon sein Amt als neuer Polizeipräfekt von Paris an. De Gaulle stützt sich auf Papon, um - wie er sagt - unter allen Umständen "Paris zu halten", während er versucht, langfristig eine Verhandlungslösung mit Algerien zu erreichen.
Papon ist für de Gaulle kein Unbekannter. Er hatte schon im August 1944 mit einem Vertrauensmann de Gaulles zusammengearbeitet. "Bei der Befreiung Frankreichs musste de Gaulle auf die Funktionäre der Vichy-Regierung zurückgreifen, um das Land wieder aufzubauen", erklärte ein gaullistischer Zeuge im Papon-Prozess.
Nun erweist sich Papon auch bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Hauptstadt als zuverlässige Stütze, die vor keiner Brutalität zurückschreckte. Von der Festnahme und Folter algerischer Studenten über die Beschlagnahmung von Büchern bis hin zu Verboten von Aufführungen und Veranstaltungen fällt alles in sein Ressort.
Am 5. Oktober 1958 verbietet Papon den Algeriern per Dekret, sich zwischen 20.30 Uhr und 5.30 Uhr im Freien zu zeigen - eine verfassungswidrige Ausgangssperre, da sie einen Teil der Bevölkerung aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert. Es beginnt eine Zeit regelrechter Hetzjagden auf dunkelhäutige Menschen in den Straßen von Paris. Im Stadtwald Bois de Vincennes wird ein Internierungslager eingerichtet, das stark an das berüchtigte Lager von Mérignac aus der Vichy-Zeit erinnert. Häufig gibt es Razzien. Algerische Arbeiter klagen über brutale Behandlung durch die französische Polizei, die sie Spießruten laufen lässt.
Papon gibt Blankovollmachten an die Polizisten aus und setzt manchmal Verhaftungsquoten fest, die erfüllt werden müssen. 1960 schafft er eine polizeiliche Hilfstruppe, die sich aus Harkis (Algeriern, die in der französischen Armee dienen) zusammensetzt und von französischen Polizisten geführt wird. Sie untersteht unmittelbar Papon, der sie gegen die FLN, die algerische Befreiungsfront, einsetzt und mit ihrer Hilfe versucht, diese zu infiltrieren. Für diese Arbeit werden Hotels im 15. und 18. Bezirk von Paris requiriert, wo Folterungen stattfinden.
Papons Methoden stoßen nicht in allen Abteilungen der Regierung de Gaulle auf Zustimmung: Ein ehemaliger Dachau-Häftling, Edmond Michelet, ist seit 1959 Justizminister und tritt öffentlich gegen die Folter auf. Er wird von Simone Weill unterstützt, ebenfalls ehemalige KZ-Insassin, die unter de Gaulle im Justizministerium arbeitet. Zu Papons großer Erleichterung muss Michelet im Sommer 1961 auf Druck des gaullistischen Premierministers Michel Debré zurücktreten.
Das Massaker vom 17. Oktober 1961
Im Januar 1961 wird ein Referendum über die Selbstbestimmung Algeriens in Frankreich mit 75,2 Prozent angenommen. Im Februar wird die OAS (Organisation de l'Armée secrète) gegründet - eine Geheimorganisation, die mit terroristischen Methoden für ein französisches Algerien kämpft. Sie besteht aus "Pieds noirs" (französischen Kolonisten in Algerien) und Armeeangehörigen und verübt bis Ende 1962 Attentate. Im Gegenzug organisiert die FLN ebenfalls Anschläge in Frankreich.
Im Oktober 1961 spitzt sich die Situation zu: Unter den Polizisten wird das Klima angeheizt. Ein Zitat von Papon vom 2. Oktober 1961 wird folgendermaßen überliefert: "Für einen von uns - zehn von denen." Er fordert die Polizisten auf, sofort zu schießen: "Wir werden euch decken, denn ihr handelt in Notwehr."
Aus Protest gegen die ständige Ausgangsperre fordert die FLN ihre Anhänger auf, nachts friedlich und massenhaft in den Straßen von Paris zu demonstrieren. Sie ruft für den 17. Oktober zu einer Protestkundgebung ab halb neun Uhr abends auf, zu der die Algerier mit ihren ganzen Familien auf die bekanntesten Plätze von Paris strömen sollen.
An dieser Demonstration nehmen etwa 30.000 Algerier teil, darunter viele Frauen und Kinder. Sie haben die strikte Order von der FLN, sich an diesem Tag "nicht einmal mit einer Stecknadel" zu bewaffnen, sondern die Sympathie der Pariser Bevölkerung für ihre Demonstration für Frieden und Unabhängigkeit zu gewinnen. Sie laufen in eine kaltblütig gestellte Falle.
Schon am Nachmittag des 17. Oktober zieht Papon bestens ausgerüstete Polizeikräfte zusammen, die systematisch mit ihren Razzien beginnen, sobald die Algerier in der Innenstadt eintreffen. Gegen Abend wird das Gerücht unter den Polizisten in Umlauf gesetzt, Algerier hätten auf Polizisten geschossen - es ist eine blanke Lüge. Darauf kommt es zu außerordentlich blutigen Massakern. Gruppen von Algeriern werden zwischen der Opéra und der Place de la République hin- und hergetrieben. Am Pont de Neuilly, einer Seinebrücke, wird scharf geschossen, und Augenzeugen beobachten, wie Polizisten Verletzte in die Seine werfen - obwohl einige von ihnen verzweifelt rufen, dass sie nicht schwimmen können.
An den Métro-Stationen werden die Algerier von Polizisten aufgegriffen, in die bereitstehenden Polizeiwagen und Busse der Städtischen Verkehrsbetriebe verfrachtet und in den Sportpalast an der Porte de Versailles, ins Stadion de Coubertin sowie ins berüchtigte Vélodrome d'Hiver transportiert. Dort waren 1942 Tausende Juden vor ihrem Abtransport zusammengetrieben worden. Die Ankommenden werden von "Empfangskomitees" der Polizei erwartet, die mit mörderischer Brutalität auf sie einschlagen.
Auch im Hof der Polizeipräfektur auf der Ile de la Cité werden immer mehr Algerier zusammengetrieben und praktisch unter den Augen von Papon zusammengeschlagen, teilweise erwürgt. Ein Polizeigewerkschafter ist dermaßen angewidert, dass er beim Generalkontrolleur von Paris interveniert und ihn auffordert, dieses Massaker zu stoppen. Gegen Mitternacht gelangen ein paar unter Schock stehende Polizisten an den Journalisten Claude Bourdet von der Zeitung France Observateur, dem sie berichten, dass fünfzig Algerier im Innenhof der Polizeipräfektur ermordet und anschließend in die Seine geworfen worden seien.
In dieser Nacht werden nach heutigen Erkenntnissen 11.730 Algerier verhaftet und zu den verschiedenen Plätzen, auch in das Internierungslager Vincennes abtransportiert. Noch Wochen später wird man immer wieder Leichen aus der Seine fischen. Als Claude Bourdet während einer Sitzung des Stadtrates von Paris vom 27. Oktober Papon direkt auf diese Ereignisse anspricht, hüllt dieser sich in Schweigen.
Die offizielle Bilanz spricht von drei Toten - es habe eine Abrechnung unter rivalisierenden Algeriern gegeben. Die Polizei habe die Nordafrikaner nur zu ihrer Sicherheit in Bussen aus der Innenstadt weggebracht, und sie seien freiwillig eingestiegen. Das ist die Version, die über dreißig Jahre lang in der Öffentlichkeit kursieren wird.
De Gaulle stellt sich vor Papon und bringt all jene zum Schweigen, die den Kopf des Polizeipräfekten fordern: "Die Demonstration war verboten. Die Polizeipräfektur hatte den Auftrag und die Pflicht, sich ihr entgegenzustellen. Sie hat getan, was sie tun musste." Darauf kommt es nur wenige Zeit später zu einem weiteren Akt staatlicher Gewalt.
Kurz bevor am 18. März 1962 die Abkommen von Evian Algeriens Unabhängigkeit besiegeln, verstärkt die OAS noch einmal ihre Terroraktionen. Am 7. Februar verübt sie einen Anschlag, durch den die vierjährige Delphine Renard ihr Augenlicht verliert. Am Tag danach gehen Gewerkschafter unter dem Slogan "OAS - Mörder!" auf die Straße.
Wiederum greift die Polizei mit äußerster Brutalität ein und treibt die Teilnehmer mit Schlagstöcken vor sich her. Ein Teil der Demonstranten versucht, in die nahegelegene Métro-Station Charonne zu flüchten. Aber das Gitter am Ende der Treppe ist geschlossen, so dass die vordersten von den nachrückenden Menschen zerdrückt und erstickt werden. Neun Personen, acht davon CGT-Gewerkschaftsmitglieder, finden den Tod. Als Wochen danach der Generalsekretär der Polizeigewerkschaft, François Rouve, gegen Papon Stellung nimmt, wird er abgesetzt, und die Wochenzeitung l'Express, die darüber berichtet, wird beschlagnahmt.
Der Informationsminister Alain Peyrefitte, ein überzeugter Gaullist, kontrolliert sämtliche Nachrichtenbulletins und sorgt dafür, dass die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt alle Informationen unterdrückt. Er betreibt persönlich die Entlassung aller Journalisten, die nicht schweigen. Er wird auch später, als Justizminister unter Raymond Barre, seinem Namen als gaullistischer Zensor und Scharfmacher treu bleiben, zum Beispiel durch sein Eintreten für die Todesstrafe. Bis zu seinem Tod am 27. November 1999 wird niemand ihn zur Rechenschaft ziehen.
Schließlich bringt eine Aktion der Pariser Polizei im Oktober 1965 das Fass zum Überlaufen: die Entführung des marokkanischen Oppositionsführers Mehdi Ben Barka. Er wird mitten in Paris am helllichten Tag in ein Auto gezerrt und nach einiger Zeit ermordet aufgefunden. Als durchsickert, dass hohe Polizeibeamte darin verwickelt sind, beschließt de Gaulle endlich, sich von seinem loyalen Mitarbeiter zu trennen.
Die Amnestie führt zur Amnesie
Papon hat von 1958 bis 1967 als Polizeipräfekt für die Premierminister Michel Debré, Georges Pompidou und Couve de Murville (alles Gaullisten) gearbeitet. Aber seine Karriere ist noch lange nicht zu Ende.
Nach einem kurzen Zwischenspiel in der Wirtschaft als Direktor von Sud-Aviation (heute Aérospatiale), wo er Listen über Gewerkschaftsmitglieder einführt, wird er 1968 nationaler Schatzmeister der gaullistischen UDF, ein Posten, der nicht ohne positive Folgen für ihn bleibt: Raymond Barre, Premierminister während Giscard d'Estaings Amtszeit als Präsident der Republik, stellt ihm 1978 das Finanzministerium zur Verfügung. Zu diesem Zeitpunkt wird Jean-Louis Debré, der Sohn von Michel Debré, Papons Kabinettsleiter.
Es ist just in dieser Zeit, dass ihn seine Vergangenheit einholt: Im Mai 1981 schildert ein Artikel der satirischen Wochenzeitung Le Canard enchaîné seine Rolle in den vierziger Jahren als Nazi-Kollaborateur. Der Artikel erscheint am 6. Mai 1981, genau zwischen den zwei Wahlgängen für die Präsidentschaftswahlen, die François Mitterrand nach langem Bemühen erstmals die Chance verschaffen, Präsident der Republik zu werden. Aus diesem Grund hat Mitterrand zu dem Zeitpunkt nichts gegen die Veröffentlichungen des Canard enchaîné einzuwenden - was sich sehr schnell ändern wird, sobald er fest im Sattel sitzt.
Die Enthüllungen über Papon werden sofort von führenden Gaullisten als "skandalöse Angriffe" abgetan. Als dann die ersten zivilen Klagen von Gérard Boulanger im Dezember 1981 und von Serge Klarsfeld im Mai 1982 gegen Papon eingereicht werden, wird die Untersuchung erst einmal in die Länge gezogen und am 11. Februar 1987 unter der Kohabitations-Regierung von Mitterrand und Chirac wegen eines Formfehlers eingestellt.
Die Angehörigen der jüdischen Opfer aus Bordeaux lassen jedoch nicht locker, und Papon wird 1988 ein zweites und 1992 ein drittes Mal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Endlich, im Oktober 1997, beginnt sein Prozess, und im April 1998 wird Maurice Papon wegen Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Rolle in der Nachkriegszeit wird nicht berücksichtigt.
Zwar erhält Einaudi, wie eingangs erwähnt, Gelegenheit zu einer Aussage, aber die Geschehnisse der Nachkriegszeit werden vom hohen Gericht ignoriert, und alle Dokumente über die Vorkommnisse vom Oktober 1961 werden nach wie vor in den nationalen Archiven unter Verschluss gehalten.
Diese Archive unterliegen den strengsten Bestimmungen von ganz Europa. Ein Gesetz von 1979 sieht vor, dass alle Dokumente dreißig, manche aber sechzig oder hundert Jahre lang unter Verschluss bleiben. Dokumente aus dem Algerienkrieg sind in besonderem Maße davon betroffen. Im Februar 1999 klagt Libération: "Seit Ende des Krieges gibt es diese Amnestie [Bestandteil des Evian-Abkommens], die mit einer Geschwindigkeit und Großzügigkeit beschlossen wurde, wie sie in der Geschichte ihresgleichen sucht (die Urheber dieses Massakers und der Toten von Charonne konnten unbesorgt weiterleben). Die Amnestie führt zur Amnesie [Gedächtnisschwund] des ganzen Staates."
Nach der Aussage Einaudis im Prozess von 1997 kommt es dennoch zu einem kurzen, aber interessanten Einblick in die Archive: Kultusministerin Catherine Trautmann (Sozialistische Partei) gibt spontan die Erklärung ab, sie würden geöffnet. Der Geschichtslehrer David Assouline, Mitglied der 1990 gegründeten Vereinigung "Au nom de la Mémoire" (Im Namen der Erinnerung), begibt sich unmittelbar nach Trautmanns Ankündigung zum Pariser Archiv, wo der Chef-Konservateur Philippe Grand seiner Bitte nachkommt und die Archive öffnet, da auch er die Worte seiner Ministerin ernst nimmt. Gemeinsam durchforsten sie die Kisten mit den archivierten Justizunterlagen, um sie mit den Listen der Toten und Vermissten aus dem Buch des Historikers Einaudi abzugleichen.
Assouline erklärt: "Die Seiten von Oktober und November 1961 sind voller Namen von sogenannten FMA [Français musulmans d'Algérie - Moslem-Franzosen aus Algerien], hinter welche das Wort Mort‘ (tot) gestempelt wurde. Bei einigen steht der handgeschriebene Vermerk repêché‘ oder repêchage‘ [aus der Seine gefischt]." Beim ersten flüchtigen Überblick kommen sie schon auf siebzig Namen.
Das Versprechen der Ministerin wird aber nicht erfüllt. Anstatt die Archive zu öffnen, beauftragt der Innenminister Jean-Pierre Chevènement seinen Mitarbeiter, den Staatsrat Dieudonné Mandelkern, das Inventar des Polizeiarchivs der Stadt Paris und des Innenministeriums zu sichten. Am 8. Januar 1998 legt dieser Chevènement seinen Bericht vor, in dem er die bisher offizielle Version korrigiert, dass es am 17. Oktober 1961 nur drei Tote gegeben habe - allerdings in äußerst vorsichtiger Form. Er nennt jetzt sieben Tote mit Namen und kann außerdem "nicht ausschließen", dass 25 der 88 Leichen in der betreffenden Zeit im Stadtzentrum etwas mit den Ereignissen jener Nacht zu tun hatten.
Interessant ist jedoch die Reaktion von Lionel Jospin: Er lässt die Archive vier Tage später, am 12. Januar 1998, erneut schließen und begründet das in einem offiziellen Kommuniqué: "Sie könnten dem laufenden Prozess von Maurice Papon in die Quere kommen. Unter diesen Bedingungen ist es der Regierung nicht möglich, die Initiative zu ergreifen, den Bericht zu veröffentlichen und die Archive zu öffnen."
Eines hat Mandelkern eindeutig festgestellt, nämlich die Tatsache, dass gerade in jüngster Zeit zahlreiche wichtige Unterlagen verschwunden sind. Auch der Bericht des Präfekten Papon an das Innenministerium, von dem sowohl der Präsident der Republik, als auch der Premierminister am 26. Dezember 1961 eine Kopie erhalten hatten, fehlt. Es fehlen die Archive der Flusspolizei, die Unterlagen des Koordinationsbüros für algerische Fragen, die Kartei des Lagers von Vincennes und andere Dokumente.
Da der Mandelkern-Bericht in der Öffentlichkeit sehr umstritten ist, wird ein zweiter Untersuchungsbericht angefertigt. Diesmal beauftragt die Justizministerin Elisabeth Guigou (Sozialistische Partei) im Oktober 1998 den Staatsanwalt Jean Geronimi damit. Sein Bericht, der Jospin am 5. Mai 1999 übergeben wird, besagt, dass 48 Algerier getötet worden seien, wobei diese Zahl, so schätzt Geronimi, sicher unter der wirklichen Zahl liege. Außerdem heißt es darin: "Ein Schreiben der Justizabteilung von Edmond Michelet an das Kabinett des Premierministers Michel Debré vom 27. Oktober 1961 erwähnte die Entdeckung von hundert Leichen und fügte hinzu, besonders häufig seien gewisse Indizien, die auf die Einwirkung von Polizeigewalt hindeuteten." Ein zweiter, direkt an Debré gerichteter Brief vom 2. November 1961 spreche offen aus, dass die Morde zum großen Teil auf Polizeiaktionen zurückzuführen seien.
Der Geronimi-Bericht macht besonders deutlich, dass alle führenden Politiker Bescheid gewusst haben. Die Justiz hat sich damals mit der Sache befasst und Untersuchungen eingeleitet, aber die Dokumente zeigen, dass hinter jedem Namen der Begriff "non-lieu" (Verfahren eingestellt) geschrieben steht. So blieben 1962 von 186 Rechtshilfeersuchen 147 auf der Strecke. Sämtliche Verfahren wurden eingestellt bis auf zwei, die sich gegen Zeitungen oder Journalisten richteten, die über das Massaker vom 17. Oktober berichtet hatten.
Ein Leserbrief Einaudis, in dem er seine Aussage vom Papon-Prozess wiederholt, wird 1998 von Le Monde abgedruckt. Maurice Papon, der weder auf die Erscheinung von Einaudis Buch (1991), noch auf dessen Aussage im Prozess (1997) reagiert hatte, strengt nun zum erstenmal eine Verleumdungsklage gegen diesen an, in der er eine Million Francs Schadenersatz von ihm fordert. Der Verleumdungsprozess findet am 4. Februar 1999 in Paris statt. Einaudi, der die Vorgänge jahrelang in akribischer Kleinarbeit recherchiert hat, während er die Archive selbst nie einsehen durfte, kann seine Verteidigung in eine regelrechte Anklage gegen Papon verwandeln und gewinnt diesen Prozess.
Für die zwei Zeugen, die bestätigen, dass das Buch von Einaudi der Wahrheit entspricht, den bereits erwähnten Archivar Philippe Grand und seine Kollegin, hat ihre Aussage jedoch ein Nachspiel: Die beiden, die in den Archiven der Stadt Paris arbeiten, werden seither von Jean Tiberi kaltgestellt, dem Bürgermeister von Paris und Chirac-Anhänger, der selbst unter Korruptionsverdacht steht.
Und heute?
Maurice Papon hat in den ganzen 18 Jahren seit der Enthüllung seiner Rolle als Nazi-Kollaborateur bis November 1999 insgesamt gerade drei Tage in einer Gefängniszelle verbracht, als sein Prozess in Bordeaux im Oktober 1997 endlich begann. Er erschien dort mit dem Abzeichen als Offizier der Ehrenlegion im Knopfloch vor Gericht, ließ sich sich ex-Premierminister Raymond Barre Loyalität bescheinigen und genoss in jeder Hinsicht besondere Privilegien: Aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung und seines hohen Alters konnte er am dritten Tag das Gericht wie ein freier Mann verlassen und durfte sogar seinen Pass behalten.
Bis alle möglichen Widerspruchsverfahren erschöpft seien, durfte er sich auf freiem Fuß bewegen. Zu seinem Schutz stellte man ihm rund um die Uhr Polizisten zur Verfügung, die ihn und sein Haus bewachten. Es genügte ein Hinweis Papons, dass er den Personenschutz nicht unbedingt brauche, damit dieser auf Anweisung des nationalen Polizeidirektors, Didier Cultiaux, am 5. Oktober 1998 aufgehoben wurde. Cultiaux untersteht dem Innenminister Chevènement; er ist erst am 24. November 1999, über einen Monat nach Papons Flucht in die Schweiz, von Chevèment abgesetzt worden. Kein Wunder, dass Papon problemlos seine Flucht in die Schweiz vorbereiten konnte.
Papon selbst ist heute hinter Schloss und Riegel. Aber die frühe Nachkriegsgeschichte ist noch immer nicht vollständig aufgeklärt: Die Archive sind weiterhin verschlossen, die Zahlen widersprüchlich, die Hintermänner und Seilschaften im Dunkeln. Was für ein Interesse hat die heutige Regierung, die Wahrheit weiterhin unter Verschluss zu halten? Es wird Zeit, diese Frage zu beantworten.