Marokko beansprucht Ceuta und Melilla

Der marokkanische Ministerpräsident Abderraman Yusufi hat den Status der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Frage gestellt und den marokkanischen Anspruch darauf geltend gemacht.

Er unternahm seinen Vorstoß im Gefolge der Regionalwahlen vom 13. Juni, nach denen es zu heftigen politischen Streitereien gekommen war. Am 13. August erklärte Yussufi gegenüber dem spanischen Radiosender Cadena SER, er wolle ‚in gelassener und freundlicher Atmosphäre‘ bilaterale Gespräche führen, mit dem Ziel, einen flexibleren Status der beiden Städte zu erreichen. Als Vorbild führte er die ,Entkolonialisierung‘ Hongkongs und Macaos an. Der gegenwärtige Zustand dürfe nicht länger andauern.

Spaniens Ministerpräsident Jose Maria Aznar, der am Montag den 16. August zu einem Staatsbesuch in Rabat eintraf, entgegnete, dass Ceuta und Melilla keine Kolonien seien und sich außerdem allerbester Gesundheit erfreuten, was auch in Zukunft der Fall sein werde. Eine Diskussion über die beiden Städte stehe absolut nicht zur Debatte.

Unterstützt wird Aznar, der an der Spitze der konservativen Volkspartei (PP) steht, von seinem Gegenspieler Joaquin Almunia von der Sozialistischen Partei (PSOE).

Almunia bezeichnete Aznars Reise als eine gute Entscheidung und lobte seine ‚politische Intelligenz‘, als erster Ministerpräsident eines EU-Landes das Nachbarland zu besuchen. Dieser Besuch müsse zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit führen. Vor allem müsse eine Entscheidung Marokkos, die die spanischen Fischereirechte in marokkanischen Hoheitsgewässern einschränkt, revidiert werden. Außerdem gehe es darum, die ungeheuren Anstrengungen des sozialistischen Ministerpräsidenten Yussufi und des neu gekrönten Staatsoberhauptes Mohamed VI. bei der Demokratisierung des nordafrikanischen Landes zu unterstützen.

Almunia meinte, über das Statut Ceutas und Melillas gebe es nichts zu verhandeln. Künftige Streitigkeiten über dieses Thema müssten aber im Geiste des Dialogs und nicht der Konfrontation geführt werden.

Während Vertreter der PP und der PSOE zur Verteidigung spanischer Interessen in Nordafrika noch die hohe Kunst verbaler diplomatischer Semantik bemühten, mischte sich das Linksbündnis Izquierda Unida(IU) mit einem vollen Kelch Patriotismus in die Diskussion ein. Aznar hätte die Reise nach Rabat wegen der "schweren Einmischung" Yussufis absagen müssen. "Die Beziehungen zu Marokko müssen geklärt werden und die Reise findet zu einem unpassenden Zeitpunkt statt," meinte der parlamentarische Sprecher dieser Koalition, Felipe Alcaraz, und bezeichnete die Politik Aznars als weltfremd.

Derweil die spanische Politik deutlich signalisiert, dass es über Ceuta und Melilla nichts zu verhandeln gebe, beherrscht dieses Thema die Schlagzeilen der marokkanischen Presse. In einem ausführlichen Leitartikel der regierungsnahen Zeitung Le Matin heißt es, dass es darum gehe, eine neue Etappe der bilateralen Beziehungen beider Länder einzuleiten. Er bezeichnet den Status der beiden Städte als kolonialen Anachronismus und erklärt weiter, von Spanien sei zu erwarten, dass es die besetzten Städte Ceuta, Melilla und die marokkanischen Inseln im Mittelmeer als kolonialen Besitz anerkenne, der nun einem Prozess der Dekolonialisierung unterworfen werden müsse. Früher oder später müssten sie in das marokkanische Mutterland reintegriert werden.

Die Zeitung L`Opinion, die der Partei Yussufis nahe steht, wies auf eine von der Iniciativa per Catalunya-Els Verds (IC) für September geplante Parlamentsanfrage hin, die eine Wiederabtretung Ceutas und Melillas unterstützt. Die katalanischen Grünen sind der Ansicht, dass die Abtretung der beiden Städte an Marokko früher oder später ins Auge gefasst werden müsse. Sie möchten daher im Parlament eine Debatte über den Status dieser beiden afrikanischen Plätze initiieren.

IC fühlt sich dabei mit Jordi Pujol einig, dem Chef der katalanisch-nationalistischen Partei Convergencia i Unio (CiU), welche die Regierung Aznars unterstützt. Die CiU ist für eine solche Debatte. Pujol selbst hatte auch schon ein ‚grundlegendes Nachdenken‘ über diese Fragen gefordert.

Gleichzeitig erklärt auch die katalanische Regionalpartei Esquerra Republicana (Republikanische Linke), dass der spanische Staat einen Prozess beginnen müsse, der Ceuta und Melilla entkolonialisieren und nach einer Periode gemeinsamer, hispano-marokkanischer Souveränität mit ihrer Integration in den marokkanischen Staat enden wird.

Was hat es mit den beiden Enklaven auf sich?

Ceuta und Melilla haben jeweils etwa 70.000 Einwohner, von denen etwa 85% spanischer Herkunft und 10% Mohammedaner sind. Geprägt ist die Stadt Ceuta durch einen Fährhafen, eine nennenswerte fischverarbeitende Industrie und einige Werften. Ihre eigentliche Bedeutung ergibt sich allerdings aus ihrer geografischen Lage: Ceuta befindet sich an der östlichen Einfahrt der Straße von Gibraltar und ist von daher militärstrategisch wichtig. Im Sommer 1936 setzte Franco von hier aus auf die Halbinsel über.

Ceuta ist zudem das Ziel tausender Flüchtlinge aus ganz Afrika, die versuchen von hier aus eine sichere Passage für die Einreise nach Spanien und damit in die EU zu erhalten. Seit die spanische Regierung die Südgrenze des Landes derart militärisch befestigt und gesichert hat, dass ein Erreichen der Halbinsel fast unmöglich ist, vergeht kaum ein Tag, an dem die Presse nicht von gestrandeten oder aufgegriffenen Flüchtlingen berichtet, die versuchen in seeuntüchtigen Booten das spanische Festland zu erreichen. Einwandererverbände schätzen, dass bereits mehr als tausend Menschen in diesem Bereich des Mittelmeeres bei ihrer Flucht das Leben lassen mussten. Flüchtlinge, die lebend von der Guardia Civil aufgegriffen werden, werden nach Berichten der Betroffenen häufig schikaniert, geschlagen, ausgeraubt und umgehend nach Marokko zurückgeschickt.

Unter diesen Umständen ist der Weg über Ceuta für die Immigranten weniger gefährlich. Die Behörden der Enklaven haben darauf reagiert, indem sie sowohl Ceuta als auch Melilla mit einem High-Tech-Befestigungswall regelrecht einmauerten und die Kräfte der Guardia Civil beständig verstärkten.

Damit hängt nun auch der unmittelbare Anlass für Yussufis Forderungen zusammen. Der schwerreiche Unternehmer, Bürgermeister von Marbella und Präsident des Fußballclubs Atletico Madrid, Jesus Gil y Gil, hat mit seiner politischen Formation Grupo Independiente Liberales (GIL)mit rassistischen und Law-and-Order-Parolen (er wolle die Städte vom Unrat - gemeint sind die Flüchtlinge - säubern) bei den Gemeinderatswahlen vom 13. Juni die Mehrheit erreicht.

In Melilla konnte er gemeinsam mit der kleinen Partei Coalicion Melilla(CM) und zweier Stadträte der PSOE die Kommunalregierung bilden. In Ceuta hat die GIL mit Unterstützung der PSOE-Stadträtin Silvia Bermudez inzwischen ebenfalls die regierende PP-PSOE Koalition zu Fall gebracht und stellt in Zukunft den Bürgermeister.

Auch wenn der Bürgermeister von Melilla mittlerweile auf Druck des Establishments aus PSOE und PP die Koalition mit der GIL wieder auflösen will und ihr Fremdenfeindlichkeit und ‚Konfrontation gegen den Staat‘ vorwirft, so geben doch diese Auseinandersetzungen die Kulisse für den Vorstoß des marokkanischen Regierungschefs Yussufis ab, Marokkos "historischen Anspruch" auf die Enklaven zu unterstreichen.

Die Rassismus- und Populismus-Vorwürfe, die von PSOE und PP gegen die GIL erhoben werden, sind mit Sicherheit berechtigt, aber letzten Endes ist dieser Rassismus nur das Ergebnis der langjährigen Politik der spanischen herrschenden Klasse, die planmäßig die Südgrenze Europas in Andalusien zu einer Festung ausgebaut, die afrikanischen Einwanderer kriminalisiert und damit den Rassismus geschürt hat. Dazu kommt die ständige Diskriminierung marokkanischer Einwanderer in anderen Regionen Spaniens, wie zuletzt in Barcelonas Stadtteil Terrassa.

Außerdem zeigt die partielle Unterstützung der marokkanischen Forderungen durch die katalanischen Nationalisten sowie der - durch die Wahlen vom Juni - gewachsene Einfluss regionalistischer Kräfte in Aragon, den Balearen und dem Baskenland, dass es dem Establishment aus PP und PSOE immer schwerer fallen wird, den spanischen Nationalstaat zusammenzuhalten.

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