Die liberalen Wirtschaftsreformen, die in Rußland seit 1991 durchgeführt werden, sind darauf ausgerichtet, die russische Wirtschaft als Konkurrenten auf dem Weltmarkt weitgehend auszuschalten und in einen Absatzmarkt und eine Quelle billiger Rohstoffe zu verwandeln.
So wurde von den vielen Großkombinaten, die von westlichen Firmen vor allem im Lebensmittel-, Chemie- und Pharmaziebereich aufgekauft worden sind, lediglich das Vertriebsnetz für den Absatz der eigenen Produktion beibehalten, während die eigentlichen Produktionsanlagen stillgelegt wurden.
Nach der Finanzkrise vom letzten Sommer ist abgesehen von der Schokoladenfabrik "Roter Oktober" kein größerer russischer Produktionsbetrieb übriggeblieben, der profitabel arbeitet. Kohle- und Stahlunternehmen werden vom Staat subventioniert, und die Aufträge für die Rüstungsindustrie sind drastisch eingebrochen. Nur noch die Rohstoffindustrie kann Erlöse einbringen.
Welche Zukunftsaussichten hinsichtlich ausländischer Investitionen bestehen, auf die in den Ländern Mittelosteuropas noch so viele Hoffnungen gesetzt werden, faßte der amerikanische Bankier und Industrielle Thomas Wainwright folgendermaßen zusammen: "Wohin sollen sie [die ausländischen Investoren] mit ihrem Geld? Für wen würden sie produzieren? Der internationale Markt ist in einer Depression und die ausländischen Konkurrenten würden die in Rußland gefertigten Produkte durch alle möglichen protektionistischen Maßnahmen abweisen." Stahl und Aluminium sind bereits jetzt von derartigen Antidumpingmaßnahmen bedroht.
Während der Finanzkrise vom vergangenen August platzte die Kreditblase, die das Ergebnis der grenzenlosen und naiven Illusionen in einen kapitalistischen Aufschwung waren, Rußland jedoch in immer größere Abhängigkeit von den Weltfinanzinstitutionen brachte.
Die Kreditpolitik des IWF diente seit 1991 dazu, bestimmte Schichten in Rußland zu stärken, mit denen diese Politik durchgeführt werden konnte. Als Hauptstütze wurden die korruptesten und rücksichtslosesten Aufsteiger auserkoren, die unter der Führung von Präsident Jelzin schnell die einträglichsten Teile der Wirtschaft unter ihre Kontrolle bringen konnten - den Finanz- und den Erdölsektor - und mit ihren Mitteln einflußreiche Medienimperien aufbauten.
Auf dem Höhepunkt ihrer Macht sollen sie bis zu 90 Prozent der Wirtschaft kontrolliert haben und wurden als die sogenannten Oligarchen bekannt: Boris Beresowski (baute über LogoWAS, dem Lada-Vertriebsnetz, sein Imperium auf; verfügt über Zeitungen, TV-Sender und Anteile an Ölfirmen und der russischen Fluggesellschaft Aeroflot), Wladimir Potanin (Oneximbank, mit 1,6 Milliarden Dollar der nach Forbes reichste Mann Rußlands), Alexander Smolenski (SBS-Agrobank), Wladimir Gussinski (Mostbankgruppe), Wladimir Winogradow (Inkombank), Wagit Alekperow (Lukoil) und Michail Chodorowski (Yukos-Oil), um nur die wichtigsten zu nennen.
Ihr Aufstieg funktionierte relativ einfach. Während der Perestroika gründeten die studierten Mathematiker und Jungkomsomolzen in der Regel mit Parteigeldern Privatbanken oder übernahmen einfach privatisierte Teile des Staatsbankensystems. Während der unsicheren Verhältnisse in den ersten Jahren nach 1991 wurden ihnen billige Staatskredite gewährt, mit denen sie sich während der Hyperinflation ihre ersten Dollarmillionen zusammenspekulieren konnten. In der Folgezeit erwarben die Oligarchen über ihre Banken fast immer weit unter Marktwert nach und nach Industriebeteiligungen vor allem im Rohstoffsektor.
Den größten Coup ermöglichte ihnen 1995 der damalige Privatisierungschef Anatoli Tschubais mit Hilfe des sogenannten "Aktien gegen Kredit"-Privatisierungsprogrammes, mit dem die profitabelsten Schlüsselindustrien "privatisiert" wurden. Oneximbankchef Potanin organisierte im Namen einiger der Oligarchen unter Ausschaltung jeglichen Wettbewerbs einen Kredit in Höhe von 2 Milliarden Dollar im Austausch gegen die Aktien der zu privatisierenden Betriebe. Beresowski und Smolenski erlangten dabei den Mehrheitsanteil von Rußlands siebentgrößter Ölgesellschaft Sibneft. Nach der Durchführung dieses Privatisierungsprogrammes gehörte ein Löwenanteil der Firmenanteile dieser Handvoll Superreicher.
Bis zur Finanzkrise profitierten sie weiter vom Staat. Die kurzfristigen Staatsanleihen, mit denen er sich gegenüber privaten Gläubigern im In- und Ausland finanzierte, gelangten über die oben genannten Banken auf den Markt. Provisionen und kostenlose Kredite bildeten bis zuletzt deren Haupteinnahmequellen und stärkten die Position der Oligarchen weiter.
In einer Studie stellten Maxim Boyko, Andrej Shleifer und Robert Vishny über die Lebensphilosophie dieser Schicht fest, daß sie "über keinerlei unternehmerische Fähigkeiten verfügen, außergewöhnlich stark auf Reichtum bedacht sind und überhaupt kein Interesse daran haben, durch harte Arbeit reich zu werden" (Privatising Russia, 1995, Cambridge: MIT Press).
Die großen Worte von IWF-Ökonomen wie Jeffrey Sachs oder Politikern wie Clinton und Kohl, daß als dringendste Aufgabe die Beseitigung der ausufernden Korruption angesehen werden müsse, um die wirtschaftlichen Probleme überwinden zu können, werden von ihrer direkten Zusammenarbeit mit den Oligarchen Lügen gestraft. Während der Präsidentschaftswahlen von 1996 wurde das besonders deutlich.
Zu dieser Zeit unterstützten Oligarchen und IWF, amerikanische und deutsche Regierung gemeinsam die Wahlkampagne Jelzins. Seine knappe Wiederwahl verdankte er nur deren gezielter Hilfe. Der italienische Journalist Giulietto Chiesa beschreibt in seinem Buch "Lebe wohl, Rußland" (Giulietto Chiesa, Pros'hai, Rossija, Moskau 1997) wie die amerikanische Regierung die Wahlkampagne von Jelzin nicht nur unterstützte, sondern direkt organisierte.
Dazu wurden vier Monate vor den Wahlen vier amerikanische Wahlkampfexperten nach Moskau gebracht. Richard Dresner, einer von ihnen, erklärte zu seiner Arbeit, daß er aus Umfragen wußte, daß Jelzin a) von fünf anderen Kandidaten in allen Ranglisten übertroffen werde, b) nur auf eine Anhängerschaft von 6 Prozent zählen könne und c) von noch weniger Russen als "kompetenter Führer" angesehen werde. "Wären wir in den USA, würde ich einem Typen mit solchen Voraussetzungen empfehlen, den Job zu wechseln." (a.a.O. S. 18)
Zur Finanzierung schreibt Chiesa weiter, daß der IWF vorübergehend "zum sowjetischen System des ‘unbegrenzten Budgets für bestimmte Projekte' überging und am Vorabend der Wahlen die Vergabe eines Kredites über 10,3 Milliarden Dollar verkündete". (S. 17) Helmut Kohl habe drei Milliarden Mark gewährt, damit Jelzin genügend Mittel für die Ruhigstellung der oppositionellen Presse zur Verfügung habe.
Ihre massive finanzielle Unterstützung und die Zusammenarbeit mit dem Westen erbrachte den Oligarchen den direkten Einstieg in die Politik. Wladimir Potanin wurde vorübergehend zum Vizepremierminister und Beresowski zum stellvertretenden Sicherheitsberater ernannt.
Boris Beresowski, der 1998 die Wahl General Lebeds zum Gouverneur der Krasnojarsker Region unterstützte und wegen seiner direkten Einflußnahme auf die Politik Jelzins als moderner Rasputin bezeichnet wird, hat bereits mehrere Ämter bekleidet - bis März das des Generalsekretärs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Alle Erklärungen von Präsident Jelzin, mit Hilfe liberaler Politiker den mittlerweile gar zu machthungrig gewordenen Oligarchen die Flügel zu stutzen und "endlich wirkliche Reformen" durchzuführen, blieben nichts weiter als Worthülsen. Die zunehmende Protestbewegung der Arbeiterklasse hinderte Jelzin an weiteren Sozialkürzungen, während die Oligarchen ihren Einfluß über ihre Medienimperien geltend machten. Die im März 1997 in die Regierung berufenen Boris Nemtzow und Anatoli Tschubais blieben keine 15 Monate im Amt, und die ein Jahr später im März 1998 einberufene Regierung Kirijenko überlebte nicht einmal den August.
Mit dem Zusammenbruch des status quo der vergangenen Jahre mangels weiterer ausländischer Finanzhilfe kam es zu einer grundlegenden Veränderung des innenpolitischen Kräfteverhältnisses. Die in der Staatsduma mehrheitlich vertretenen Kommunisten und Nationalisten, die ihre Opposition zur Regierung bisher nur in radikalen Worten zum Ausdruck brachten, Jelzins Politik aber immer konsequent unterstützt haben und davon mit großzügigen Privilegien profitierten, versuchen seit August zunehmend die Interessen ihrer Klientel durchzusetzen.
Hinter ihnen stehen die Direktoren und Eigentümer derjenigen Industriezweige, die während der Bereicherungsorgie der "Reformperiode" zu kurz gekommen sind und zusehen mußten, wie ausländische Produzenten ihnen Marktanteile strittig machten. Zu ihnen zählen vor allem die Rüstungs- und Stahlindustrie. Die Rüstungsindustrie wurde von der Finanzkrise besonders hart getroffen, weil ihr Hauptauftraggeber, der Staat, seinen Rüstungsetat enorm einschränken mußte. Zusätzlich brechen nun die Märkte Osteuropas infolge der Nato-Osterweiterung fast vollständig zusammen.
Nach der Entlassung von Kirijenko im August schlug Jelzin zunächst Viktor Tschernomyrdin als neuen Premierminister vor, der für die "Stabilisierungperiode" der russischen Wirtschaft steht und von den Nationalisten und Kommunisten als ausgemachter Feind angesehen wird. Es kam zu einem Kompromiß, und die Regierung Primakow wurde gebildet. Zum Vizepremierminister wurde Juri Masljukow ernannt, der in den 80er Jahren die staatliche Planungsbehörde Gosplan leitete und Mitglied der KPRF ist.
Diese Regierung hat eindeutig einen Übergangscharakter und soll zwischen den Interessen des ausländischen Kapitals und der Oligarchen auf der einen Seite und den Nationalisten auf der anderen Seite lavieren.
Vor diesem Hintergrund müssen das Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin und die jüngste Affäre um Boris Beresowski und Generalstaatsanwalt Juri Skuratow gesehen werden, die mit Ausbruch des Kosovokrieges neue Nahrung bekam.
Skuratow, der im Zusammenhang mit der Aufdeckung verschiedener Korruptionsskandale Jelzintochter Tatjana Djachenko, Expremier Viktor Tschernomyrdin und Boris Beresowski beschuldigte, an der Veruntreuung der IWF-Kredittranche vom letzten August in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar beteiligt zu sein, wurde Anfang Februar von Jelzin nach alter Gewohnheit entlassen. Mit Unterstützung der Staatsduma setzte dieser allerdings seine Arbeit fort, worauf Anfang März ein Video im Fernsehen veröffentlicht wurde, das Skuratow mit zwei Prostituierten im Bett zeigt.
Mit Ausbruch des Krieges schienen die Nationalisten noch weiter zu erstarken. Begleitet von den Medien forderten sie direkte militärische Unterstützung für Milosevic und teilweise sogar den Einsatz von Kernwaffen gegen die NATO. Gegen Beresowski und Smolenski wurde am 7. April ein Haftbefehl ausgestellt, und das Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin am 15. April nahm immer konkretere Gestalt an.
Doch Mitte vergangener Woche kam es zu einer Wendung. In den Medien begann man "objektiver" über den Krieg zu berichten, der Haftbefehl gegen Beresowski und Smolenski wurde zurückgenommen, und das Amtsenthebungsverfahren wurde auf Mitte Mai vertagt.
Kommentare sprachen von einem Wiedererstarken Jelzins, dem ein Weltbankkredit von 3 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt wurde und der am Mittwoch Wiktor Tschernomyrdin als Jugoslawienbeauftragten für Friedensverhandlungen einsetzte.
Hintergrund dafür sind vor allem Bestrebungen aus Europa und insbesondere Deutschland, dafür zu sorgen, daß Rußland im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg sein Gesicht wahren kann. Schon jetzt werden dessen außenpolitischen Interessen seitens der USA immer unverhohlener mit Füßen getreten, und eine Ausweitung des Konfliktes auf Rußland gerät zusehends in den Bereich des Möglichen. So erklärte Israels Verteidigungsminister Moshe Arens am Sonnabend bezüglich des angeblichen russischen Kerntechnologietransfers in den Iran, daß "die USA die einzigen sind, die Rußland stoppen können".
Die europäischen Regierungen verstehen sehr genau, daß Rußlands Schwäche mehr und mehr zu einem europäischen Problem wird. Der Journalist und Rußlandspezialist Gerd Ruge brachte die europäische Sichtweise auf die Formel: "Rußland ist nicht die Titanic, Rußland ist der Eisberg."