Ein besonders gräßliches Blutbad wurde von den NATO-Bomben vergangenen Montag Mittag angerichtet, als Kampfflugzeuge mit ihren Raketen einen Personenzug trafen, der gerade die Eisenbahnbrücke bei Grdelicka Klisura, 300 km südlich von Belgrad, überquerte. Bis Redaktionsschluß wurden zehn Tote und 16 schwerverletzte Passagiere aus den Trümmern geborgen.
Der Zug war auf dem Weg von Belgrad nach Salonika, Griechenland, und unter den Toten und Verletzten befanden sich ausländische Passagiere, darunter griechische Journalisten. Ein Eisenbahnsprecher berichtete, man habe ein kleines Mädchen tot geborgen, und einige der Leichen seien bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und verbrannt.
Der Zug hatte die Brücke über den Fluß Juzna Morava noch nicht verlassen, als eine NATO-Rakete seine Oberleitung zerriß. "Das Flugzeug machte dann kehrt und beschoß den Zug", sagte ein Pressesprecher der jugoslawischen Armee. Zwei Personenwagen stürzten von der Brücke in den Fluß tief unten in die Schlucht. Brent Sadler, ein Reporter des amerikanischen Senders CNN, beschrieb das Blutbad in einem kurzen Vorortbericht als eine Szene von "blutigen Trümmern".
"Zeigen Sie dies Clinton", rief ihm ein Augenzeuge zu und wies auf verbrannte Kleider und menschliche Überreste. "Wie wird die NATO das erklären? Oder beschießen sie jetzt bloß noch zivile Objekte", sagte er mit bebender Stimme.
Clintons Antwort kam prompt ein paar Stunden später, als er auf einem Stützpunkt der US Air Force in Louisiana sprach, von der aus B-52-Bomber sich an den Luftschlägen gegen Jugoslawien beteiligt hatten. Clinton erklärte seinen Zuhörern, mit den NATO-Luftschlägen zeige sich "Amerika von seiner besten Seite".
Unter stillschweigendem Einverständnis der devoten Medien, die sich weigern, eine objektive Darstellung der zivilen Opfer zu geben, zielen die Vereinigten Staaten auf Fabriken, Wohngebiete, Schulen und ähnliche Einrichtungen in Serbien, Montenegro und im Kosovo. Die massiven Luftschläge sollen die serbische Bevölkerung einschüchtern und ihren Widerstandswillen brechen. Seit dem zweiten Weltkrieg hat Europa nichts gesehen, was diesem NATO-Luftkrieg gleichkommt.
Je länger die Bombenangriffe fortgesetzt werden, desto häufiger werden zivile Ziele angegriffen, und desto höher ist die Zahl der zivilen Opfer. Es ist unmöglich, den Aussagen der US- und NATO-Sprecher noch länger zu glauben, daß dies bloße Unglücksfälle seien. In den ersten Tagen des Kriegs haben Washington und seine europäischen Verbündeten zwar darauf verzichtet, zivile Ziele anzugreifen, weil sie die öffentliche Meinung im Westen fürchteten. Aber als die Medienkampagne zur Verteufelung der Serben zu greifen begann, fühlten sie sich von dieser Zurückhaltung befreit und verstärkten ihre Versuche, die Bevölkerung zu terrorisieren.
Der Personenzug war nur ein Beispiel in einer langen Liste industrieller und ziviler Ziele, die in den vergangenen Tagen von NATO-Bombern getroffen worden sind:
- Der Industriekomplex Zastawa in Kragujevac, die traditionsreiche Autofabrik 100 km südwestlich von Belgrad, die den Yugo herstellt, wurde in den letzten vier Tagen bereits zum zweitenmal beschossen. Vergangene Woche hatten NATO-Jets die Fabrik angegriffen, obwohl sich dort Arbeiter als lebende Schutzschilder aufhielten. 124 Personen wurden verletzt. Der Angriff vom Montag verletzte weitere 36 Arbeiter. Durch die Zerstörung des Industriekomplexes haben 38.000 Menschen Arbeitsplatz und Existenz verloren.
- NATO-Kampfflugzeuge bombardierten einen Industriekomplex in der zentralserbischen Stadt Krusevac, wo sie das Heizkraftwerk der Stadt und die Fabrik14.Oktober, einen führenden Baumaschinenhersteller auf dem Balkan, dem Erdboden gleichmachten. Durch die Zerstörung dieser nur etwa einen Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Anlagen wurden 6.000 Arbeiter arbeitslos und eine unbekannte Zahl von Zivilpersonen verletzt.
- In der Industriestadt Pancevo, die gegenüber von Belgrad am andern Donauufer liegt, zerstörten NATO-Bomber eine der größten jugoslawischen Ölraffinerien.
- Eine NATO-Rakete schlug in einem Wohngebiet von Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens ein. Zwei der drei Donaubrücken dieser Stadt wurden in den ersten zwei Wochen des Luftkriegs zerstört.
- Zwölf Zivilpersonen starben durch eine Bombe, die letzten Donnerstag nacht im Stadtzentrum von Cuprija einschlug und 400 Familien obdachlos machte.
- Über zwanzig zivile Gebäude wurden beschädigt, als am frühen Sonntagmorgen NATO-Raketen in das Dorf Turekovac, westlich von Leskovac, einschlugen.
- NATO-Kampfflugzeuge bombardierten Samstag Nacht zivile Ziele in der Umgebung von Kraljevo in Zentralserbien. Die Dorfschule in Bogutovac wurde von sechs Raketen getroffen und vollkommen zerstört. Außerdem beschädigten NATO-Bomben Schulen in den Dörfern Raska, Lacevci, Tavnik und Lozno.
- Über fünfzig Cruise Missiles schlugen Samstag Nacht in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo ein. Der Flugplatz von Shatina vor den Toren der Stadt stand am Sonntag erneut unter Angriff. Die Gegend im Südosten der Haupstadt wurde ebenfalls angegriffen, und Splitterbomben zerstörten die Gemeinde Lipljani im südlichen Kosovo.
- Ein dreijähriges Mädchen und zwei weitere Personen wurden Samstag Nacht durch eine Bombe getötet, die in das Dorf Mirovac in Nord-Kosovo einschlug. Im ganzen wurden zehn Raketen auf dieses Gebiet abgefeuert.
- Zwei weitere Radiostationen wurden am Wochenende von Cruise Missiles getroffen.
Seit Beginn des Luftkriegs am 24. März sollen durch NATO-Angriffe 300 Zivilpersonen getötet und 3.000 verwundet worden sein. Aber diese Zahlen werden zwangsläufig in dem Maße in die Höhe schießen, in dem die NATO ihre Angriffe auf Städte und Industrieanlagen verstärkt. Im NBC-Programm Meet the Press erklärte der NATO-Oberkommandierende Wesley Clark am Sonntag, die massiven Luftangriffe mit 700 Flugzeugen lägen im Plan und würden intensiviert.
In den letzten Tagen hat das Pentagon die Entsendung weiterer 82 Flugzeuge nach Europa angekündigt, und Großbritannien hat seinen Flugzeugträger HMS Invincible zur Unterstützung der USS Theodore Roosevelt in die Adria entsandt.
Die wirtschaftliche, soziale und ökologische Katastrophe, die durch den Krieg der NATO ausgelöst worden ist, wurde auf einer Pressekonferenz des Ad-hoc-Komitees zur Beendigung der Beteiligung Kanadas am Krieg in Jugoslawien am Montag in Ottawa aufgezeigt. Der Wirtschaftsprofessor Michel Chossudovsky an der Universität von Ottawa faßte die Auswirkungen der Bombardierung zusammen.
Unter Berufung auf jugoslawische Quellen erklärte er, die NATO habe bisher beinahe 3.000 Angriffe geflogen; 200 allein in einer Nacht. Tausende Tonnen Sprengstoff seien abgeworfen und 450 Cruise Missiles abgeschossen worden.
"Die Bomben richten sich nicht nur gegen Industrieanlagen, Flugplätze, Elektrizitätswerke und Telekomunikationsanlagen, Eisenbahnen, Brücken und Treibstoffdepots", erklärte er, "sie richten sich auch gegen Schulen, Krankenhäuser, Regierungsgebäude, Kirchen, Museen, Klöster und historische Stätten."
Zu den Auswirkungen des Luftkriegs auf die jugoslawischen Arbeiter berichtete Chossudovsky: "Mehrere Tausend Fabriken wurden zerstört oder beschädigt, was die Produktion von Konsumgütern lahmgelegt hat. Jugoslawischen Quellen zufolge haben durch die völlige Zerstörung der Betriebsstätten im ganzen Land 500.000 Arbeiter ihre Arbeitsplätze verloren und zwei Millionen Bürger ihr Einkommen und dadurch die Möglichkeit, ihren minimalsten Lebensbedarf zu decken. Nach westlichen Schätzungen beläuft sich die Zerstörung von Eigentum in Jugoslawien auf Schäden von mehr als zehn Milliarden US-Dollar."
In der Presseerklärung heißt es, die NATO-Luftschläge richteten sich gegen kleine Dörfer und große Städte; weiter wird angedeutet, daß jugoslawische Vertreter das Ausmaß der zivilen Opfer absichtlich untertrieben.
Die NATO-Bomben hätten auch an Krankenhäusern starke Schäden angerichtet. Dreizehn der größten Krankenhäuser des Landes seien entweder teilweise oder ganz zerstört worden. Auch Schulen wurden nicht verschont. Mehr als 150 wurden beschädigt oder zerstört, 800.000 Schüler können nicht mehr unterrichtet werden.
Der von den USA angeführte Luftkrieg zielt auch gegen historische und kulturelle Denkmäler. Getroffen wurden das auf das 14. Jahrhundert zurückgehende Kloster Gracanica, das Patriarchat von Pec (13. Jahrh.), das Kloster Rakovica und die Festung Petrovarardin, alles Weltkulturgüter der UNESCO.
Chossudovsky malte ein düsteres Bild der von den USA und der NATO angerichteten kurzfristigen und langfristigen Umweltzerstörung: "Erdölraffinerien und Lager mit flüssigen Rohmaterialien wurden getroffen, was die Vergiftung der Umwelt zur Folge hatte. Dadurch wurde die Zivilbevölkerung massiv giftigen Gasen ausgesetzt."
Er zitierte den serbischen Umweltminister Branislaw Blazic: "Die Aggressoren haben gelogen, als sie sagten, sie würden nur militärische Ziele treffen und internationale Konventionen einhalten; sie setzen illegale Waffen wie Splitterbomben ein, greifen zivile Ziele an und lösen eine Umweltkatastrophe aus." Ein Bericht des NBC-Fernsehens bestätigte, daß die NATO Galenica, die größte Arzneimittelfabrik Jugoslawiens in einem Außenbezirk Belgrads, bombardiert hat. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Gasmasken zu tragen, um sich vor gefährlichen Emissionen zu schützen. Aber kein Mensch besitzt solche Gasmasken.
Neben der Vergiftung der Luft droht der Zivilbevölkerung auch eine Knappheit an sauberem Trinkwasser. Besonders in Belgrad ist die Wasserversorgung durch die Bombardierung des Wasserwerks von Zarkovo bedroht.
Angesichts der Brutalität der Luftschläge der USA und der NATO und ihrer systematischen Angriffe auf die jugoslawische Industrie sollte man sich daran erinnern, daß der US-Militarismus in Ländern, die aus dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion hervorgegangen sind, eine Politik der Entindustrialisierung verfolgt hat.
Es war das bewußte Ziel der amerikanischen Politik, große Teile der Industrie dieser Länder stillzulegen, um "überschüssige Kapazität" abzubauen und die Interessen amerikanischer transnationaler Konzerne zu fördern. Ähnliche Überlegungen spielen bei der Militärstrategie der USA in Jugoslawien ebenfalls keine unbedeutende Rolle.
Auf die schlimmsten Fälle von "Kollateralschäden", die bekannt werden, reagieren die Verantwortlichen mit routinemäßigen Worten des Bedauerns und der Versicherung, die Bombardierungen seien darauf angelegt, der Bevölkerung den geringstmöglichen Schaden zuzufügen. Aber je mehr Tod und Zerstörung zunehmen, desto klarer wird, daß das Ziel des Bombenkriegs der USA und der NATO in einer Schwächung der industriellen und sozialen Infrastruktur des Landes besteht.
Wie das tragische Beispiel des Irak zeigt, wird das Ausmaß der Zerstörung erst nach dem Ende des Kriegs wirklich sichtbar werden. In den Jahren nach dem Golfkrieg starben als Folge der Militärangriffe und der wirtschaftlichen Sanktionen etwa eine Million irakische Kinder. Wie viele hunderttausend Jugoslawen werden nach diesem Krieg, der die wirtschaftliche Basis des Landes weitgehend zerstört, zu Grunde gehen?
Die Ausbrüche von Mord und Gewalt auf dem Balkan in den letzten zehn Jahren müssen im Zusammenhang mit einer Wirtschaftspolitik gesehen werden, welche Jugoslawien von den Westmächten und dem IWF in den siebziger und achtziger Jahren aufgezwungen wurde. Ende der achtziger Jahre hatte diese Politik die Wirtschaftsstruktur, die es den jugoslawischen Völkern nach dem zweiten Weltkrieg dreißig Jahre lang ermöglicht hatte, in Frieden zusammen zu leben, ernsthaft unterhöhlt. Die soziale Krise - steigende Arbeitslosigkeit und sinkender Lebensstandard - bot den kapitalistischen Mächten, allen voran den Vereinigten Staaten, die Möglichkeit, ethnische Feindseligkeiten anzustacheln und sie im Sinne amerikanischer oder europäischer Interessen in dieser Region auszunützen.
So schrecklich der Bürgerkrieg auf Balkan auch ist - noch weit schrecklicher ist die bewußte Zerstörung ganz Jugoslawiens, die im Interesse geopolitischer und wirtschaftlicher Ziele vonstatten geht, die vor der amerikanischen und europäischen Bevölkerung geheim gehalten werden. Alle Regierungen, die an diesem kriminellen Unternehmen beteiligt sind, werden sich dem Urteil der Geschichte stellen müssen.