Hessischer Rundfunk bespricht Rogowins "1937"

In der Sendung "Das politische Buch" hat der Hessische Rundfunk am 20. September das Buch "1937 - Jahr des Terrors" von Wadim Rogowin besprochen, das beim Arbeiterpresse Verlag in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Besprechung, verfaßt von Ulrich Schiller, hat folgenden Wortlaut:

Als wir Tamara zuletzt in Moskau besuchten, saßen wir wieder über dem Foto ihres Vaters. Wir wollten, daß es auch unsere erwachsenen Kinder sehen: das Foto eines jüngeren Offiziers; gut, intelligent und entschlossen aussehend. Auch er gehörte zu den Besten, die der Roten Armee ihr Leben verschrieben hatten. Nachdem sein Kommandeur, Michael Nikolajewitsch Tuchatschewski hingerichtet worden war, wurde auch Tamaras Vater erschossen. Zwar wurde er rehabilitiert, aber die Umstände von Verurteilung und Erschießung blieben im Dunklen.

Der Fall Tuchatschewski, obwohl er nun über 60 Jahre zurückliegt, hat auch nach Dutzenden von Untersuchungen nicht aufgehört, Russen - ob betroffen wie Tamara oder nicht - und Nichtrussen gleichermaßen zu beschäftigen, ja zu faszinieren.

Das liegt nicht nur an der Ungeheuerlichkeit, daß Stalin angesichts einer spannungsgeladenen internationalen Lage die Rote Armee, seine Armee, buchstäblich enthauptete, sie in den oberen und mittleren Rängen durch fabrizierte Anklagen ihrer fähigsten Kommandeure beraubte; die Faszination hat auch die Rolle Hitlers und Heydrichs zum Hintergrund, die Stalin die fabrizierte Geschichte von einem geplanten Staatsstreich Tuchatschewskis zuspielten. Tuchatschewski war in den zwanziger Jahren der Mann gewesen, der die sowjetische Zusammenarbeit mit der Reichswehr koordinierte. Ironischerweise war es Hitler, der Stalin den Anlaß gab zu dem, was er ohnehin vorhatte: nämlich die Liquidierung der militärischen Führung, die Stalin noch nicht blindlings ergeben war. Im Jahre 1937, nur zwei Jahre vor dem Hitler-Stalin-Pakt und vier Jahre vor Beginn des Rußlandfeldzugs, ließ Stalin seine Terrormaschine gegen die Generäle um Tuchatschewski los.

Der russische Historiker Wadim Rogowin hat die parteiinternen und internationalen Verwicklungen des Falles Tuchatschewski mit großer Akribie nachgezeichnet. Sie beanspruchen einen beträchtlichen Teil seines jüngsten Buches: "1937 - Jahr des Terrors". Rogowin unternimmt darüber hinaus den für einen Historiker etwas halsbrecherischen Versuch, der Idee nachzugehen, ob es nicht tatsächlich ein Komplott gegen Stalin gegeben habe - und Rogowin antwortet mit einem halben "ja". Es seien Mitte der dreißiger Jahre Unterlagen gefunden worden, aus denen hervorgegangen sei, daß Stalin als junger Mann - ein Agent der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei war. Mit einer einzigen, noch dazu zweifelhaften Quelle hält Rogowin es für möglich, daß sich Tuchatschewski, solches hörend, zur Beseitigung des unsäglichen Schuftes aufgerufen gefühlt habe.

Das Buch "1937 - Jahr des Terrors" liest sich streckenweise wie ein Krimi. Nicht die Foltern und Verhörmethoden des NKWD, um Geständnisse angeblicher Trotzkisten und Parteifeinde zu erpressen, werden beschrieben, sondern mehr die teuflischen Mechanismen, mit denen Stalin und sein damaliger Geheimdienstchef Jeshow zu Werke gingen - in der blutigen nach ihm benannten "Jeshowtschina", der Hunderttausende ergebener Kommunisten zum Opfer fielen.

Wenn heute oft gesagt wird, die Russen gehen noch immer der "Bewältigung" ihrer Vergangenheit aus dem Wege, so muß man Rogowin dafür preisen, daß er mit seinen Stalinabrechnungen aus nunmehr geöffneten Archiven der russischen Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhält - selbst wenn in diesem Spiegel deutliche Züge Trotzkis zu erkennen sind. Rogowin hat vor allem eins gezeigt: daß es in Stadt und Land immer wieder mutige Menschen gab, die Stalin die Stirn boten, seinen Sprachrohren widersprachen, auch wenn sie ihr Leben riskierten.

Störend bei der Lektüre ist, daß oft Namen genannt werden, ohne daß dem Leser Funktion und Rolle der Betroffenen mitgeteilt werden.

Siehe auch:
Im Arbeiterpresse Verlag erschienen:
1937 - Jahr des Terrors

Marxistischer Historiker in Moskau verstorben
(19. September 1998)

Russische "Demokraten" verteidigen Moskauer Prozesse
(2. September 1998)

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