Ein Hoch auf den Kleinkrämer

Ein Hoch auf den Kleinkrämer - Joschka Fischers Antwort auf die Globalisierung

"Hättest Du geschwiegen, wärst Du Philosoph geblieben."
(Lateinisches Sprichwort)

Rechtzeitig vor der Bundestagswahl hat der Spitzenkandidat der Grünen, Joschka Fischer, seine politischen Vorstellungen in Buchform dargelegt. Unter dem Titel "Für einen neuen Gesellschaftsvertrag" legt er auf dreihundert Seiten seine persönlichen Überzeugungen dar. "Anders als ein Parteiprogramm, das immer Ausdruck innerparteilicher Kompromißzwänge ist", schreibt er im Vorwort, "bietet ein Buch die Möglichkeit,... den persönlichen Standpunkt jenseits innerparteilicher Zwänge und Rücksichtnahmen zu klären und ausführlich zu begründen."

Fischer betrachtet sich selbst als Vertreter der "deutschen Linken" - ein Begriff, den er sehr weit faßt. Er versteht darunter, wie er in einer Fußnote anmerkt, neben SPD und Grünen, Gewerkschaften, verschiedenen sozialen Bewegungen und kirchlichen Basisinitiativen "auch den sozialen Flügel der Unionsparteien". Fischer unterscheidet sich allerdings in einem entscheidenden Punkt von zahlreichen anderen Vertretern dieser "Linken": Während sie ihre Augen vor den umwälzenden Veränderungen verschließen, die sich zur Zeit in der Weltwirtschaft vollziehen, hält Fischer die Globalisierung für die entscheidende Veränderung unserer Zeit.

Die gesamte erste Hälfte seines Buches unter dem Titel "Die globale Revolution" ist diesem Thema gewidmet. Fischer wird nicht müde, die einschneidenden Folgen der Globalisierung zu schildern, wobei er die Begriffe "Revolution" und "revolutionär" in geradezu inflationärer Weise benutzt. Er zitiert ausführlich die einschlägigen Studien von Lester Thurow, Hans Peter Martin und Harald Schumann, Paul Kennedy, Robert Reich und vielen anderen zu diesem Thema. "Die globale Revolution der Weltwirtschaft", betont er immer wieder, wird "die westlichen Gesellschaften voll treffen und dort in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur kaum einen Stein auf dem anderen lassen." Mit drastischen Worten beschreibt er die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung: Das Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit, das Absinken von Löhnen und Sozialleistungen, die Erschütterung des Nationalstaats.

Die Globalisierung, darauf besteht Fischer, läßt sich weder aufhalten noch rückgängig machen: "Sowenig es den frühen Sozialisten und auch den damaligen Handwerkern und Bauern geholfen hat, sich gegen die erste industrielle Revolution seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und dann vor allem im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu stellen,... sowenig wird es heute der europäischen Linken nützen, wenn sie sich gegen diesen vergleichbare epochalen Prozeß der Globalisierung stellt."

Doch was ist Fischers "politische Antwort auf die globale Revolution" - wie der Untertitel seines Buches lautet. Dieser Frage ist der zweite Teil des Bandes gewidmet, doch Hinweise auf die Richtung, in die die Antwort geht - oder vielmehr nicht geht - finden sich bereits im ersten, analytischen Teil.

Als erstes schließt Fischer jede Lösung aus, die ein aktives Eingreifen der Arbeiterklasse ins politische Geschehen nach sich zöge. Wird "der Klassenkompromiß zwischen Arbeit und Kapital notwendigerweise in neue Klassenkämpfe umschlagen?" fragt er besorgt. "Für Europa wäre das eine beängstigende Perspektive."

Solche Klassenkämpfe zu verhindern ist sein zentrales Anliegen. Er begreift sich nicht als Interessenvertreter einer bestimmten Klasse oder gesellschaftlichen Gruppe, auch nicht als Vorkämpfer für ein Prinzip oder ein gesellschaftliches Modell; nein, er gibt sich als besonnener Staatsmann, der über den Klassen steht und dem angesichts der wachsenden Kluft in der Gesellschaft nur Eines Sorgen bereitet: ihr "friedlicher Zusammenhalt". Dies, erklärt er, "die Frage nach ihrer Kohäsion", sei die "neue soziale Frage der westlichen Gesellschaften".

Als zweites beharrt er darauf, daß die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht angetastet werden dürfen. Immer wieder kommt er in diesem Zusammenhang auf die Sowjetunion zurück und legt dabei einen grobschlächtigen Antikommunismus an den Tag, wie man ihn sonst nur in äußerst rechten Publikationen findet. Die tatsächliche Geschichte der Sowjetunion - die erbitterten Kämpfe zwischen Bürokratie, Arbeiterklasse und Bauernschaft, aus denen die Bürokratie als Siegerin hervorging - ist für Fischer ohne Interesse. Er zieht aus einem der bewegtesten Kapitel der Menschheitsgeschichte nur eine Schlußfolgerung: die Heiligsprechung des Marktes.

"Die leninistisch-stalinistische Sowjetunion", behauptet er an einer Stelle, "hat in diesem Jahrhundert mit ihrer Ausschaltung des Marktes zugunsten eines absoluten Staates das praktische Beispiel der Außerkraftsetzung des Marktes als Gegenspieler des Staates durchexerziert, und bis heute haben die diesem Experiment unterworfenen Völker und Ökonomien einen furchtbaren Preis für diesen totalitären Irrsinn zu entrichten." Seine Tiraden gipfeln in der Behauptung, "der kommunistische Marxismus" setze "auf die Herstellung der Gleichheit zu Lasten der Freiheit".

"Freiheit" und "Markt" sind in Fischers Weltbild weitgehend identische Begriffe. Er betrachtet den "Markt" nicht nur als ökonomisches Allheilmittel, sondern weist ihm - da er jeder Massenbewegung von unten mißtraut - auch noch die politische Aufgabe zu, der Allmacht des Staates als demokratisches Korrektiv entgegenzuwirken. Wen wundert es da noch, daß er den "rheinischen Kapitalismus" - den Kapitalismus von Adenauer und Erhard - in geradezu lyrischen Worten preist: Diesen "westeuropäischen Dreiklang von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat" gelte es "unter den neuen Bedingungen des Globalismus zu rekonstruieren und zukunftsträchtig zu machen".

Doch wie will Fischer das bewerkstelligen? Was schlägt er konkret als "politische Antwort auf die globale Revolution" vor? Worin besteht der "neue Gesellschaftsvertrag", den er im Titel seines Buches ankündigt? Um es kurz zu fassen: Er will die negativen sozialen Folgen der Globalisierung durch die Schaffung eines Heeres von kleinen Krautern - von Selbständigen, Scheinselbständigen und Kleinbesitzern - auffangen.

Seine Schlüsselthese lautet, es gelte "den Kampf um die Durchsetzung wirklicher Selbständigkeit für die Masse der neuen Klein- und Kleinstunternehmer in der ,unternehmerischen Wissensgesellschaft' aufzunehmen", und die fange "bei der Bildung von Eigenkapital" an. Hier öffne sich "ein völlig neues Kapitel sozialer Emanzipation". Die politische Linke solle "die bereits sehr bläßlich gewordenen tradierten Klassenkampfbilder vom Unternehmer als Ausbeuter vergessen und sich auf die Verbesserungen der ökonomischen und politischen Bedingungen für eine neue Gründerzeit im Dienstleistungskapitalismus konzentrieren." Es gelte, faßt er am Ende des Buches zusammen, den "Schritt von der Mitbestimmungsgesellschaft zur Miteigentümergesellschaft" zu gehen.

Man kann nur staunen über so viel Naivität. War die Masse der kleinen Selbständigen nicht das unbeständigste und schwankendste Element in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts? Und ausgerechnet auf sie will Fischer den friedlichen Zusammenhalt der Gesellschaft stützen. Sind Kleinunternehmer und Kleinbesitzer dem Auf und Ab der Märkte und dem Diktat der Banken nicht hilflos ausgeliefert? Ist ihre Selbständigkeit angesichts der Vorherrschaft von mächtigen Monopolen über jeden Bereich des wirtschaftlichen Lebens nicht eine pure Illusion? Haben Hitler und Mussolini und heute Le Pen und Haider in Zeiten der Krise nicht gerade deshalb unter diesen Schichten ein fruchtbares Rekrutierungsfeld gefunden? Fischer ist so sehr von Vertrauen in den Kapitalismus beseelt, daß er gegenüber den gesellschaftlichen Folgen seiner Politik völlig blind ist.

Die Hoffnung, die gesellschaftliche Krise ließe sich durch die massenweise Förderung selbständiger Existenzen lösen, liegt allerdings jenseits jeder Realität. Bei Lichte betrachtet läuft Fischers Forderung nach mehr Selbständigkeit einfach darauf hinaus, die Vorteile, die ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis bisher noch mit sich brachte - regelmäßige Arbeitszeiten, garantiertes Einkommen, ausreichende Sozialversicherung, usw. - zu beseitigen.

Parallel dazu will er auch die staatlichen Sozialleistungen drastisch beschneiden. "Der Sozialstaat als Garant für stetig steigenden Massenwohlstand", verkündet er, "wird sich wohl kaum aufrecht erhalten lassen."

Als Antwort auf die Arbeitslosigkeit schlägt er die Schaffung eines "dritten, gesellschaftlichen Sektors des Arbeitsmarktes" vor, in dem sich "staatliche Arbeitsmarktpolitik mit wettbewerbsfähiger, kleinunternehmerischer Eigeninitiative und diese wiederum mit selbstorganisierten Initiativen und ehrenamtlichen Aufgaben" mischen. Dieser Sektor soll "im kleinen, lokalen Dienstleistungsbereich ... eine Vielzahl von kleinräumigen sozialen Bedürfnissen" bedienen. Die in diesem Bereich bezahlten "Minimallöhne" - der Ausdruck stammt von Fischer - sollen durch steuerfinanzierte Lohnsubventionen aufgebessert werden, die an die Stelle der bisherigen Arbeitslosen- und Sozialhilfe treten. Dabei darf natürlich auch eine Dosis Zwang nicht fehlen. "Freilich wird in einem Grundsicherungssystem ein ganz anderer Druck zur individuellen Eigeninitiative auf die Leistungsbezieher ausgehen, damit die Grenzen der Finanzierbarkeit des Systems nicht gesprengt werden", heißt das in Fischers verschlungener Sprache.

Fischers blindes Vertrauen in den Kapitalismus wird auch deutlich, wenn er für die "Verankerung des Sozialstaats im Kapitaleigentum und in der Beteiligung von Kapitalerträgen" eintritt. "Der Aktienkapitalismus", lautet seine Begründung, "wird die dominante Organisationsform in der Ära des Globalismus sein, und darauf wird der neue Gesellschafts- und Generationenvertrag auszurichten sein." Und was geschieht, wenn die Aktienkurse einbrechen, was angesichts der rasanten Kursentwicklung, die in keinem Verhältnis zur Ertragsentwicklung der Unternehmen steht, mehr als wahrscheinlich ist? Die Altersversorgung von Millionen wäre dann betroffen. Fischer ahnt gar nicht, daß er hier eine weitere soziale Zeitbombe von ungeahnter Sprengkraft vorschlägt.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es für Fischers Ruf als Politiker besser gewesen wäre, wenn er dieses Buch nicht geschrieben hätte. Er hat viel gelesen, aber wenig verstanden und noch weniger durchdacht. In einem umständlichen Stil, bei dem die Kompliziertheit des Ausdrucks in umgekehrtem Verhältnis zur Schlichtheit der Aussage steht, kaut er alle zur Zeit gängigen politischen Vorurteile wieder.

Fischers Buch gibt keine Antwort auf die globale Revolution, dafür sagt es viel über die Person und den Politiker Fischer aus. Der Protestler der sechziger Jahre hat die Mentalität des Hausbesetzers mit der des Hausbesitzers vertauscht - wobei die beiden gar nicht so weit auseinander liegen. Er verbindet die Ehrfurcht des kleinen Mannes vor dem großen Kapital mit dessen Bestreben, eine Gesellschaft nach seinem Ebenbild zu schaffen. Daß dieser Mann als "Politiktalent" und zukünftiger Außenminister gehandelt wird, wirft ein bezeichnendes Licht auf Krise der bürgerlichen Politik.

Läßt man alle Ungereimtheiten und Widersprüche beiseite, bleibt unter dem Strich eines übrig: Die Entschlossenheit, die bestehende Ordnung unter allen Umständen zu verteidigen, koste es, was es wolle.

Loading