Der US-Filmemacher Todd Haynes hat vier recht unterschiedliche Filme geschaffen. In Superstar: The Karen Carpenter Story(1987) hat er das Leben der populären amerikanischen Sängerin nacherzählt, die an Magersucht starb. Alle Rollen werden von Barbie-Puppen gespielt. Wegen der unautorisierten Verwendung der Musik der Carpenters gab es rechtliche Schwierigkeiten, und deshalb wurde der Film seit 1990 nicht mehr gezeigt. Haynes Film Poison(1991) erzählt drei Geschichten, eine davon, frei nach Jean Genet, über soziale Ausgrenzung, Leidenschaft und Tod. Julianne Moore spielt in dem bemerkenswerten Film Safe(1995) eine kleinbürgerliche Hausfrau, die auf praktisch jede Substanz des zwanzigsten Jahrhunderts allergisch reagiert. Dieses Werk, eine beißende Kritik der Ideologie und Praxis des "New Age", ist einer der aufwühlendsten amerikanischen Filme dieses Jahrzehnts.
In Velvet Goldmine hat Haynes seine Aufmerksamkeit der "Glitter-" oder "Glam"-Rock-Ära im London der frühen 70er Jahre zugewendet. Der Film nähert sich seinem Gegenstand indirekt. Er beginnt mit einem kurzen Tribut an Oscar Wilde. Wilde, der als ein kleiner Junge auftritt, erzählt seinem Lehrer fröhlich: "Ich will ein Pop-Idol werden." Der Film springt dann etwa hundert Jahre in die Zukunft. Im düsteren Jahr 1984 (einem bewußt Orwellschen 1984) wird der Journalist Arthur Stuart (Christian Bale) damit beauftragt, den Aufenthaltsort von Brian Slade (Jonathan Rhys-Meyers), eines Stars der Glitter-Szene, zu ermitteln. Slade ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, nachdem er sieben Jahre zuvor seine eigene Ermordung vorgetäuscht hatte. Arthur interviewt den ersten Manager des Stars, seine geschiedene amerikanische Ehefrau Mandy (Toni Colletteu) und einen anderen Hauptdarsteller, den Amerikaner Curt Wild (Ewan McGregor). In Rückblicken folgen wir dem Aufstieg Slades in die Prominenz der Musikwelt und schließlich seinem Niedergang und vermuteten Tod.
Kunstgriffe, ein extravagantes Outfit und die absichtliche Verwischung der sexuellen Identitäten charakterisierte den Glam-Rock. Es war unerläßlich,einen homo- oder bisexuellen Eindruck zu hinterlassen. Manche gingen noch weiter. Brian heiratet Mandy, verliebt sich aber in den extravaganten Wild. Das zweite Paar geht für kurze Zeit zusammen weg. Als sie dies dem Journalisten Jahre später erzählt, sagt Mandy traurig, "Es ist komisch, wie schön Leute aussehen, wenn sie zur Tür hinausgehen." Indem er Slade und den anderen nachspürt, rekapituliert Arthur seine eigene Vergangenheit; als Teenager war er ein Fan dieser Musik gewesen und hatte seine eigene Identität zum Teil am Vorbild des Medienimages seiner Helden herausgebildet.
Arthur entdeckt am Ende, daß Slade sich in den 80er Jahren physisch und moralisch in einen monströsen, Reagan verehrenden Superstar verwandelt hat. In einer der letzten Sequenzen begegnet Arthur in einer Bar Wild, der jetzt vom Glück verlassen ist. In dem interessantesten Dialog des Films sagt Wild: "Wir hatten vor, die Welt zu verändern und haben nur uns selbst verändert." Arthur: "Was ist daran falsch?" Wild: "Nichts, wenn du die Welt nicht siehst."
Haynes ist ein wahrer Film-Stilist. Seine Bilder haben Sinn und Dringlichkeit. Man spürt, daß er weiß was er tut und warum er es tut. Und er scheint ehrlich und von selbstlosen Motiven bewegt zu sein. Er macht nicht einfach Filme um des Effektes willen oder um seinen Ruf zu pflegen. Seine Arbeit ist von intellektueller und künstlerischer Integrität geprägt. Er ist einer der interessantesten amerikanischen Filmemacher, die zur Zeit arbeiten.
Der Regisseur, beeilt er sich zu betonen, ist alles andere als ein Realist. Obwohl Leute und Ereignisse identifizierbar sind und einer gewissen Logik folgen, findet alles in einer Wolke, einem Dunst statt. Sein Hauptanliegen in diesem Film ist weniger, einen bestimmten Moment der Geschichte der Popkultur zu reproduzieren, als einen alternativen emotionalen und geistigen Zustand hervorzurufen.
In seinen Bemerkungen zu Velvet Goldmine schreibt Haynes: "Glam-Rock war das Produkt des letzten wirklich progressiven Jahrzehnts, welches wir im Westen gesehen haben - ein Klima großer Möglichkeiten und Offenheit -, das in wichtigen sozialen Bewegungen resultierte, in erstaunlichen Filmen und phantastischer Musik...
Ich wollte diese Zeit neu untersuchen, weil ich denke, daß die 70er eine einmalige Ära waren, nicht weil das Kitsch war, sondern wegen des extrem radikalen Geistes, den wir danach nicht mehr gesehen haben. Die Art sich zu kleiden und aufzutreten hat eine direkte Beziehung zu Sexualität und Identität, Individuum und Nicht-Konformität. Es war eine wirklich fortschrittliche Periode, aber in einer spielerischen Weise, ohne das politische Dogma der 60er."
Ein großer Teil des Anliegens von Haynes dreht sich um die Begriffe des Natürlichen und des Künstlichen. Die Hinweise auf Oscar Wilde sind nicht zufällig. Er sagte dem Interviewer Rob Nelson in der Zeitschrift City Pages,daß das - von ihm abgelehnte Streben - nach "Realitätsbezogenheit" in der Kunst mit der Art und Weise verbunden sei, "wie wir uns als Gesellschaft verstehen, nämlich in Form von sehr starren Begriffen, unter Bezug auf Modelle, die auf der Natur beruhen. Das läuft letztlich auf Begriffe und ein Verständnis von Identität hinaus, die auf einer Art organischer, authentischer Selbstwahrnehmung beruhen, die wir finden und an die wir uns halten sollen."
Haynes bemerkte in dem gleichen Interview, daß filmischer "Realismus" sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verändert habe, daß er "ziemlich verschlüsselt, erfunden" sei, und fuhr fort: "Ganz einmalige Stimmen, wie die von Oscar Wilde, und diese verrückte kleine, als Glitter-Rock bekannte Abweichung in der Rockmusik beginnen, die Sprache vorzuführen, die wir gerne für unsichtbar und natürlich halten. Und das ist ihr Thema. Es ist nicht zufällig, daß manche dieser Werke von einem Element homosexueller Geschichte beseelt sind und die Welt auf eine andere Art betrachten - weil Schwule und andere Minderheiten nicht den Zugang zu diesen Codes von Realismus und Authentizität haben, die die Gesellschaft so gerne vergibt. Deshalb sind wir gezwungen die Welt gegen den Strich zu lesen und auf jene Strukturen und Codes zu achten, die uns nicht ausschließen."
Es ist relativ selten, daß ein zeitgenössischer amerikanischer Filmemacher solche Materie - oder überhaupt irgendeine Materie - ernsthaft behandelt. Haynes hat offensichtlich gründlich darüber nachgedacht. Und trotzdem stört mich etwas an seinen Aussagen, was meiner Meinung nach mit der relativen Schwäche dieses Films zusammenhängt. Denn nachdem man gesagt hat, daß Velvet Goldmine ein anregendes Werk voller Einsichten ist, muß man zugeben, daß es Gefühl und Verstand nicht so stark anspricht, wie es Haynes unzweifelhaft beabsichtigt hatte.
Eine Reihe Faktoren kommt dabei ins Spiel, einige davon sind eine Frage des persönlichen Geschmacks. Ich finde die Musik, die Haynes so bewundert, zumeist nicht wirklich elektrisierend. (David Bowie, Brian Ferry, Brian Eno, Iggy Pop). Und ich stelle im allgemeinen die Praxis in Frage, einer relativ vergänglichen Entwicklung der Popmusik eine solche Bedeutung beizumessen. Popmusik ist nach meiner Meinung in der Regel dann am interessantesten, wenn sie am wenigsten ernst genommen wird. Außerdem, die ganze Gemeinschaft der unzweifelhaft talentierten Künstler dieser Zeit mit Oscar Wilde zu vergleichen, trifft daneben und deutet zumindest eine schwere Unterschätzung von Wildes Bedeutung als Kritiker und Künstler an. (Ich werde hier nicht darauf eingehen, worin ich diese Bedeutung sehe. Das wäre der vierte oder fünfte solche Versuch in 18 Monaten. Die wesentlichen Texte dazu sind am Ende aufgeführt.)
Die Begeisterung verschiedener Individuen für stilistisch - und thematisch - entgegengesetzte Arten von Popmusik hat meiner Meinung nach sehr viel mit den Stimmungen bestimmter Generationen und sozialer Schichten zu bestimmten Zeitpunkten zu tun. Mit anderen Worten: sie enthält ein zufälliges Element. Warum vermutet Haynes, daß sein gewähltes Genre (er stieß darauf als College-Student) für ein großes Publikum Bedeutung hat? Ich finde die Vorstellung offen gesagt etwas herrisch, daß ein Zuschauer in einem Gebiet, in dem die Auswahl relativ willkürlich und subjektiv ist, auf etwas reagieren muß, für das sich Haynes leidenschaftlich interessiert. Das erscheint mir als kleinere Fehlkalkulation, die möglicherweise Teil einer ernsteren Fehlkalkulation ist.
Die Entschlossenheit von Haynes, den Gegensatz zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit als eine Art permanentes ästhetisches Programm darzustellen, scheint mir fragwürdig zu sein. Nachdem man erkannt hat, daß der Naturalismus entgegen seines Anspruchs eben nicht "das Leben, wie es ist" wiedergibt und daß alle Kunst sich der Wahrheit über die Realität mit künstlichen Mitteln nähert, sollte man vielleicht zu anderen Themen übergehen. Leute, die einen Fetisch aus theatralischem Auftreten und einer besonderen Kleidung machen, wirken auf mich nicht überzeugender als diejenigen, die darauf bestehen, daß nur "realistische Darstellungen des modernen Klassenkampfs" etwas zählen.
Es ist völlig richtig, das Erstreben von "Authentizität, Natürlichkeit und einer direkten emotionalen Erfahrung zwischen Publikum und Künstler" - was Haynes etwas herablassend als "Dinge, die Amerikaner lieben" bezeichnet - für ein unzulängliches künstlerisches Konzept zu halten, sie aber wie der Filmemacher als eine direkte Barriere aufzubauen, scheint mir ebenso restriktiv, wie jedes Dogma, das er verachtet. Wahrheit zeigt sich in unterschiedlichsten Formen, unter dem Einfluß verschiedener Impulse. Der Realismus von Courbet oder Kiarostami ist ebenso radikal, wie das dandyhafte Wesen von Wilde oder Haynes. Das ist kein Argument für Eklektik - verschiedene Formen können unter verschiedenen Bedingungen ästhetisch progressive oder rückläufige Auswirkungen haben - sondern für eine konkretes Studium des Problems.
Die grundlegende Schwierigkeit mit Velvet Goldmine läuft nach meiner Einschätzung auf folgendes hinaus. Man fühlt, daß eine aktive und ausgeprägte Intelligenz und ein starker Sinn für Film am Werk ist - aber woran? Haynes scheint unverhältnismäßig viel Energie auf ein verhältnismäßig unbedeutendes Thema zu verwenden. Ich vermute, daß Haynes selbst interessanter ist, als die Musiker, denen er eine große Menge Aufmerksamkeit widmet. Warum beschränkt er sich auf diese Weise?
Er sagte der New York Times: "Ich bin ein politischer Filmemacher, und den Kern meiner Arbeit sehe ich in der Politik der Identität. Wir leben in einer Gesellschaft, die darauf besteht, uns unsere Identitäten vorzuschreiben. Ich denke, daß die Glam-Rock-Ära einige der stärksten Bedrohungen dafür hervorbrachte, indem sie zur Verweigerung jeder festen Kategorie bei sexueller Orientierung oder Identität überhaupt ermutigte."
Ich bin weniger daran interessiert, gegen Haynes Auffassung zu polemisieren (man muß ihm zugute halten, und das macht er an anderer Stelle klar, daß er der gegenwärtigen Identitätspolitik feindlich gegenübersteht), als ihren gewundenen Charakter herauszustellen. Er wehrt sich mit Recht dagegen, wie in der Gesellschaft Grenzen festgelegt werden, wer wir sind, wer wir sexuell sein können, und er ist bereit, über dieses Problem gründlich nachzudenken, aber wie viel seiner Flexibilität und wirklichen Breite der Vision erstreckt sich auf soziale und historische Probleme? Wäre er ebenso kritisch gegenüber jenen Argumenten, die versuchen uns politisch und sozial einzugrenzen ("Sozialismus ist tot", "Eine Revolution ersetzt eine Tyrannei durch eine andere" und all die anderen gängigen Banalitäten)? Ich weiß es nicht, aber ich vermute nein. Die dialektische Vorstellungskraft von Haynes bewegt sich nach meiner Einschätzung auf einer zu begrenzten Fläche. Ich bin überzeugt, daß dies etwas mit der Begrenztheit von Velvet Goldmine zu tun hat, mit seiner etwas mageren Gefühlswelt. Gegenwärtig bringt der Regisseur seine Kühnheit in einigen Gebieten zum Tragen, in anderen nicht.
Haynes spricht zum Beispiel von "Codes", die der großen Mehrheit zur Verfügung stehen. Sexuelle Codes - vielleicht. Aber zu behaupten, daß die Mehrheit der Bevölkerung sich auf bestimmende soziale Codes "von Realismus und Authentizität" einläßt oder Vorteile davon hat, läßt schlicht eine gewisse ideologische Kurzsichtigkeit erkennen. Die unsichtbaren Codes, die die bestehende Gesellschaftsordnung als natürlich und unvermeidbar darstellen, schließen alle Mitglieder der Gesellschaft bis auf eine Handvoll aus und arbeiten gegen sie. Sie sind machtvoll, schwer zu erkennen, und sie in Frage zu stellen ruft "die größten Gefahren" hervor.
Wenn ein so feinfühliger Mensch wie Haynes von diesem Verständnis abgeschnitten scheint, dann ist dies keine persönliche Schwäche, sondern ein allgemeineres intellektuelles Problem. Künstler arbeiten in vielen Fällen quasi mit halber Kraft. Irgendwie müssen die außergewöhnlichen formalen Fortschritte und sporadischen Einsichten zu einem Frontalangriff auf den ästhetischen und gesellschaftlichen Status quo erweitert und umgearbeitet werden. Ich vermute stark, daß Haynes jemand ist, der einen Beitrag zu einem solchen Angriff leisten kann.