Eskalierende Bandengewalt in Haiti: US-Militär verstärkt Präsenz in der Botschaft in Port-au-Prince

Am Montag berief der regionale Handelsblock Karibische Gemeinschaft (Caricom) eine Dringlichkeitssitzung in Jamaika ein, um über die soziale und politische Krise in Haiti zu diskutieren, die sich rapide verschärft.

Die Schlüsselfiguren bei dem Treffen waren jedoch die Vertreter der USA, Frankreichs und Kanadas – derselben imperialistischen Mächte, die Haiti in der Vergangenheit durch Besetzung, Unterdrückung und Regimewechsel beherrscht haben. Bezeichnend für die Schwere der Krise ist, dass Berichten zufolge auch US-Außenminister Antony Blinken nach Jamaika reiste. Blinken hat eine Schlüsselrolle in Washingtons zunehmend hektischen Bemühungen gespielt, den Nato-Krieg gegen Russland zu eskalieren und Israels völkermörderischen Angriff auf die Palästinenser zu unterstützen. Daneben wurde auch der kanadische UN-Botschafter Bob Rae sowie Vertreter Brasiliens und der Vereinten Nationen erwartet.

Ariel Henry, der von den USA eingesetzte haitianische Premierminister, mit US-Außenminister Antony Blinken [Photo: Haitis regjering]

Die Diskussion fand nach einem Wochenende statt, an dem US-Streitkräfte angesichts der weiter zunehmenden Bandengewalt per Hubschrauber nach Port-au-Prince flogen, um das Sicherheitspersonal in der amerikanischen Botschaft zu verstärken, und die USA, Deutschland und die Europäische Union sich beeilten, nicht benötigtes diplomatisches Personal abzuziehen.

Washington versucht mit Unterstützung Kanadas und Frankreichs, eine neue „Übergangsregierung“ zusammenzuschustern, die die Zustimmung aller sich bekriegender Fraktionen der korrupten Oligarchie und  politischen Elite Haitis genießt. Auf diese Weise soll eine Fassade der „nationalen Einheit“ und „Legalität“ für eine weitere ausländische Militärintervention konstruiert werden, um im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre die bürgerliche „Ordnung“ durchzusetzen.    

Nur wenige Tage vor dem Treffen hatten die USA den nicht gewählten Premierminister Ariel Henry entführt. Bis dahin hatten sie Henry unerschütterlich unterstützt, als er sich weigerte Präsidentschafts- und Parlamentswahlen anzusetzen und im Auftrag des IWF brutale Austeritätmaßnahmen durchsetzte.  

Derzeit sitzt Henry in Puerto Rico fest, wo ihn US-Regierungsvertreter unter Druck setzen, sie bei ihren Bemühungen zu unterstützen, eine Regierung mit „breiterem Rückhalt“ aufzubauen und dann zurückzutreten - was dieser am Dienstag schließlich auch tat. Henry war nach seiner Rückkehr von einer diplomatischen Reise nach Kenia an der Wiedereinreise gehindert worden. In Kenia wurde eine von den USA und Kanada gesponserte Vereinbarung unterzeichnet, eine paramilitärische Einheit von 1.000 kenianischen Militärpolizisten nach Haiti zu schicken, um den zerfallenden Staat zu stabilisieren und „Recht und Ordnung“ wiederherzustellen.

Wie üblich werden diese Interventionen mit „humanitären“ Erwägungen gerechtfertigt. In Wirklichkeit ist das Wohlergehen der haitianischen Bevölkerung die geringste Sorge der imperialistischen Mächte.

Die Hauptverantwortung für die Lage in Haiti tragen die USA und ihre Verbündeten. Sie ist das Ergebnis von mehr als einem Jahrhundert blutiger Besatzung und Interventionen seit 1915. Im Jahr 2004 hatten die USA und Kanada den gewählten haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide durch einen Militäreinsatz gestürzt. Nach einem verheerenden Erdbeben mit mehr als einer Viertelmillion Todesopfern im Jahr 2010 erwiesen sich die Behauptungen der imperialistischen Mächte über „Wiederaufbau“ und „humanitäre Hilfe“ als grausamer Betrug, da nahezu nichts von den gespendeten Geldern bei der Bevölkerung ankam und sich eine kleine Handvoll haitianischer Oligarchen und internationale Konzerne bereicherten.

Haiti befindet sich momentan in einer schweren sozialen Krise, die durch Mangel und die allgegenwärtige Bandengewalt erschwert werden und das Land lahmlegen. Die Banden haben den wichtigsten internationalen Flughafen geschlossen und mehr als 4.000 Insassen aus Gefängnissen freigelassen. Schulen sind geschlossen, Krankenhäuser werden geplündert, Gebäude in Brand gesteckt (u.a. wurde versucht, das haitianische Innenministerium anzuzünden). Die Straßen sind übersät mit den Leichen der Opfer von Schießereien, bis sie verbrannt werden.

Ein BBC-Reporter beschrieb den Eindruck, den er am staatlichen Universitätsklinikum in Port-au-Prince gewann: „Es gibt nirgendwo Anzeichen, dass medizinisches Personal vorhanden wäre. Eine Leiche, zugedeckt mit einem Laken und von Fliegen umschwärmt, liegt in einem Bett neben Patienten, die umsonst auf Behandlung warten. Trotz des fürchterlichen Gestanks entfernt niemand die Leiche, die in der karibischen Hitze schnell verwest.“

Da 80 Prozent der Landeshauptstadt von Banden kontrolliert werden, hat das US-Militär Marines mobilisiert, um das Sicherheitspersonal in der Botschaft zu verstärken, und in der Nacht von Samstag auf Sonntag per Hubschrauber entbehrliches Botschaftspersonal evakuiert. Diese Operation fand auf Geheiß des Außenministeriums statt. Am Sonntag wurden mit zwei schnell organisierten Flügen über die Grenze zu einer improvisierten Landebahn auf einem Militärflughafen in der Dominikanischen Republik ein weiteres Dutzend Beamte evakuiert, darunter Botschafter Deutschlands und der Europäischen Union.

Die Eskalation der Bandengewalt hat das ohnehin schon weit verbreitete Elend der haitianischen Bevölkerung noch weiter verschärft. Die Einwohner Haitis sind ständig in Gefahr, von verirrten Geschossen getroffen zu werden, und da die Banden die Zugangsstraßen zu den Häfen kontrollieren und „Zölle“ für den Transport lebenswichtiger Güter fordern, herrschen gravierende Warenengpässe. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, über eine Million leidet bereits an Unterernährung. Hunderttausende leben obdachlos auf der Straße oder in provisorischen Unterkünften.

Tausende versuchen verzweifelt, die schwer bewachte 375 Kilometer breite Grenze zur Dominikanischen Republik im Osten zu überqueren. Dort schüren bewaffnete, mit dem Militär verbündete Banden Chauvinismus gegen Haiti. Ein Korrespondent von Le Monde beobachtete, wie bewaffnete Banden aus Vermummten in einem dominikanischen Grenzort Dutzende von Haitianern entführen, misshandeln und bedrohen. Laut einem Beamten der Einwanderungsbehörde werden jeden Tag etwa 1.000 Haitianer in Tierkäfigen auf Lastwagen aus der Dominikanischen Republik abgeschoben.

Ariel Henry war nach der Ermordung des rechten haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse von Washington mit Unterstützung von Kanada und Frankreich, und gegen den Widerstand der großen Mehrheit der verarmten haitianischen Bevölkerung eingesetzt worden. Seither haben die Länder der von den USA geführten „Kerngruppe“ Henry unterstützt, obwohl er weder Rückhalt in der Bevölkerung noch juristische oder verfassungsrechtliche Legitimität verfügt und auch lange nach Ablauf der Amtszeiten aller gewählten Vertreter keine Wahlen durchgeführt hat.

Fußgänger laufen an einem gepanzerten Polizeifahrzeug vorbei. Aufgenommen in Port-au-Prince am 7. März 2024 [AP Photo/Odelyn Joseph]

Henry werden Beziehungen zu den Banden nachgesagt, die von rivalisierenden Fraktionen der haitianischen Elite unterstützt werden. Im November 2022 war herausgekommen, dass Senatspräsident Joseph Lambert sein Vorgänger Youri Latourte mit Netzwerken von Banden zusammengearbeitet hatten, die im Drogenhandel aktiv waren. Auch wenn die imperialistischen Mächte Henry mittlerweile ihre Unterstützung entzogen haben, sind alle Sektionen des haitianischen politischen Establishments durch ihre Assoziation mit irgendeiner Form von Kriminalität belastet.

Gang-Bosse, vor allem Jimmy Chérizier, benutzen den Widerstand der Bevölkerung gegen die jetzige Regierung und eine weitere Militärintervention der imperialistischen Mächte, um ihren Aktivitäten demagogisch einen Anschein von politischer Legitimität zu verleihen. Dass derartige Gangsterbosse zum Gesicht des Widerstandes gegen die haitianische Regierung geworden sind, verdeutlicht die schwere Krise und den Bankrott der bürgerlichen Opposition in Haiti. Diese war schon immer bekannt für ihre Angst vor den verarmten Massen des Landes und ihre Unterwürfigkeit gegenüber den imperialistischen Vampiren, die Haiti - einstmals die lukrativste Kolonie der Welt - in die Armut gestürzt haben.  

Der Wiederaufstieg des kriminellen Faschistenführers Guy Philippe unter die potenziellen Nachfolger Henrys bestätigt erneut den reaktionären Charakter der vom US-Imperialismus forcierten Bestrebungen, ein neues Übergangsregime zusammenzustellen. Philippe hat zusammen mit dem ehemaligen Präsidenschaftskandidaten und Senator Moïse Jean Charles ein neues politisches Bündnis und ein dreiköpfiges Gremium gebildet, das eine neue Regierung bilden will. Philippe, der eine wichtige Rolle im vcon den USA unterstützten Putsch gegen den ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide gespielt hatte, und in den USA wegen Geldwäsche und Drogenhandel eine Haftstrafe verbüßt hat, fordert seit seiner Rückkehr nach Haiti im letzten November den Rücktritt der aktuellen Regierung. In einem Interview mit Le Monde erklärte er: „Henry hat keine Legitimität, er wurde nicht vom haitianischen Volk gewählt und sollte zurücktreten. Das ist die Lösung. Er darf nicht an der Macht bleiben.“

Unabhängig von der Zusammensetzung des neuen Regimes, das die USA und ihre imperialistischen Verbündeten der haitianischen Bevölkerung aufzuzwingen versuchen, wird es unweigerlich dazu beitragen, die Krise Haitis zu verlängern. Derzeit halten die USA und Kanada eine direkte Militärintervention unter ihren Flaggen angesichts der Bandengewalt und des massiven Widerstandes der haitianischen Bevölkerung gegenüber ausländischen Interventionen, und besonders gegenüber Washington und Ottaw, für zu riskant und kostspielig - sowohl finanziell als auch hinsichtlich möglicher Todesopfer.

Die Pressesprecherin des Weißen Hauses Karine Jean-Pierre erklärte letzte Woche, es sei derzeit keine Entsendung von US-Truppen nach Haiti geplant. Stattdessen verwies sie auf das Abkommen, die notorisch korrupte und brutale kenianische Militär zu einer „Sicherheitsmission“ nach Haiti zu schicken.

Eine der größten Sorgen der imperialistischen Mächte ist es, zu verhindern, dass die Situation in Haiti einen großen Flüchtlingsstrom in die USA und Kanada auslöst und die ganze Karibik destabilisiert, die sie als ihren „Hinterhof“ betrachten. Zudem betrachtet Washington den offensichtlichen Zusammenbruch einer Nation in seiner traditionellen Einflusssphäre und angeblichen Verbündeten als schädlich für seinen globalen Ruf.

1994 hatte Joe Biden, damals ein führendes Mitglied des Außenpolitikausschusses des Senats, in einem Fernsehauftritt die traditionelle und noch immer geltende Haltung des US-Imperialismus - söldnerhafte Berechnung, Gleichgültigkeit und Feindschaft - gegenüber der haitianischen Bevölkerung zusammengefasst: „Es ist zwar schrecklich, das zu sagen, aber wenn Haiti einfach in der Karibik untergehen oder 80 Meter ansteigen würde, dann würde das für unsere Interessen nicht viel bedeuten. ... Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika zulassen, dass chaotische Umstände so nahe an unserer Küste existieren, obwohl sie unsere Position in der Welt nicht grundlegend ändern würden, egal was mit Haiti passiert, dann hätten sie doch Auswirkungen auf unsere Fähigkeit, Konsens in viel wichtigeren Fragen in ganz Lateinamerika zu schaffen.“

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