74. Berlinale: Surreale und reale Blicke auf „die Absurdität unserer kapitalistischen Zeit“

Kriege, Klimakatastrophen, soziale Verwüstungen, der Zustand des weltweiten Kapitalismus sträubt sich gegen eine reale Darstellung in Filmen. Zu verheerend, zu schmerzlich für Millionen Menschen sind die Ereignisse und Lebensbedingungen, als dass man sie in einer knappen halben Stunde wiedergeben könnte.

Dennoch sind sie die reale Grundlage der Kurzfilme der diesjährigen Berlinale, auch wenn diese auf den ersten Blick, anders als vergangenes Jahr, bis auf wenige Ausnahmen ihren Blick nach innen, auf persönliche Dinge richten.

Es sind offensichtlich gerade die im letzten Jahr entstandenen Filme, die angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt die Frage aufwerfen, wie in einer solchen Zeit noch Menschlichkeit existieren kann. Die filmischen Mittel reichen von surrealen Szenen mit 3D-Computerspiel-Technik, magischen Videoinszenierungen, Animationen, bis hin zu einfühlsamen Momentaufnahmen von Freundschaft, Liebe, Familie und kindlicher Sehnsucht nach Geborgenheit.

Auffällig ist, dass immer wieder Tiere eine große oder manchmal die Hauptrolle spielen, wie in den Animationsfilmen We Will Not Be the Last of Our Kind von Mili Pecherer, einer düsteren Neuinterpretation der biblischen Arche Noah, die Mensch und Tier nicht wirklich Rettung bietet, oder Les animaux vont mieux von Nathan Ghali, und Kawauso von Akihito Izuhara. In Preoperational Model von Philip Ullman werden eine Prinzessin und ihre Zofe mit Tierköpfen dargestellt.

"We Will Not Be the Last of Our Kind" von Mili Pecherer [Photo by Mili Pecherer]

In einem Berlinale-Interview mit Sektionsleiterin Anna Henckel-Donnersmarck heißt es, die vielen Tierfiguren seien als „Reaktion auf den Klimawandel, auf menschliche Rücksichtslosigkeit und Machtmissbrauch“ zu verstehen. Allerdings seien diese Filme kein „Call-for-Action, sondern geben vielmehr einem Gefühl Ausdruck“.

Letztlich verlieh die Jury der Berlinale Shorts die Hauptpreise jedoch an Filme, die über solche Gefühle hinausgehen und die reale Welt ins Bewusstsein heben.

Den Goldenen Bären erhielt der argentinische Film Un movimiento extraño (An Odd Turn) von Francisco Lezama. Der bereits 2019 gedrehte Film zeigt eine junge Museumswärterin, Lucrecia in Buenos Aires, die in Vorahnung eines Kunstdiebstahls ihr Pendel befragt, das stattdessen jedoch einen plötzlichen Anstieg des Dollarkurses voraussagt. Da sie unerwartet entlassen wird und eine Abfindung erhält, taucht sie in die Spekulationswelle mit Dollars ein und verliebt sich in den Angestellten einer Wechselstube.

In einem Interview verweist die Crew des Films auf die heftige Finanzkrise, die Argentinien seit 2018 erschüttert. Er habe diesen Film nicht gleich veröffentlichen wollen, so Regisseur Francisco Lezama, aus Angst, er würde zu zynisch aufgefasst. Inzwischen, mit der brutalen Kürzungspolitik des neuen rechtsextremen Präsidenten Javier Milei, sei er jedoch sehr aktuell. Es gebe in Argentinien Hyperinflation von über hundert Prozent, in einem Land, in dem rund die Hälfte der Menschen in Armut lebt. Menschen versuchen, die verdienten Pesos schnell in Dollars umzutauschen, um durch die steigenden Kurse ihre Gehälter zu verdoppeln oder zu verdreifachen. „Die Spekulation ist wie ein ständiger Tanz mit der Ungewissheit“, so Lezama.

Die Verleihung des Goldenen Bären begründete die Jury mit den Worten, der Film strotze „vor Vitalität, ironischem Humor und nuancierten sozialen Kommentaren, die die Absurdität unserer kapitalistischen Zeit auf den Punkt bringen“.

Auch ein anderer Film zeigt diese Absurdität, Shi ri fang gu (Sojourn to Shangri-La) aus China. Ein Modeshooting am Strand, bei dem über Nacht die dafür errichtete Kulisse vom Meer verschluckt wird, führt zu einer Jagd nach diesem Requisit mit einer Drohne.

„Die verschwundene Installation bringt den ehrgeizigen Menschen ins Wanken“, erklärt dazu Regisseurin Lin Yihan aus Shanghai. „Das Wissen und die Ordnung, entstanden aus einer Kapitalkampagne, zerfällt in eine anklagende, umständliche Menschenjagd. Ich habe in diesem Film versucht zu fragen: Wohin werden die Menschen fallen?“

Re tian wu hou – aus dem Leben einer chinesischen Arbeiterfamilie

Den Silbernen Bären der Jury erhielt der chinesische Film Re tian wu hou (Remains of the Hot Day) von Wenqian Zhang, der zeigt, wie der steile Aufstieg des chinesischen Kapitalismus zur ökonomischen Macht das Leben von Arbeiterfamilien verändert hat. Der Film basiert auf der eigenen Kindheit der 1992 geborenen Regisseurin Wenqian Zhang und ist ihr zweites Werk nach dem ebenfalls preisgekrönten Dokumentarfilm Wu Kou Zhi Jia (A Long Journey Home).

"Re tian wu hou" (Remains of the Hot Day) von Wenqian Zhang [Photo by Trembling Flame Films]

An einem heißen Sommertag Ende der 1990er Jahre bleibt die sechsjährige Qi vom Kindergarten zu Hause. Sie lebt in einer Wohnung mit ihren Großeltern, ihrer Mutter, ihrem Onkel, seiner Frau und ihrer jüngeren Cousine Meng in engen Wohnverhältnissen. Qi’s Vater ist abwesend, er arbeitet in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen.

Qi wandert von Raum zu Raum, mal spielt sie mit ihrem Spielzeug, mal liegt sie apathisch auf dem Fußboden, während ein fröhliches Lied aus dem Radio klingt. Währenddessen kocht die Großmutter und kümmert sich um die kleine quengelige Meng. Deren Mutter, Qi’s Tante, kann sie nicht beruhigen, ebensowenig ihr Vater, Qi‘s Onkel, als sie von der Arbeit nach Hause kehren. Meng schreit nach der Großmutter, die ihr vertrauter ist.

Qi’s Mutter kommt spät zum Essen, sie trägt Geschäftskleidung und sieht müde aus. Qi berührt sie mit ausgestrecktem Finger zaghaft am Arm. Man spürt ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Zuwendung. Ihre Mutter sortiert jedoch erst Unterlagen am Schreibtisch, überreicht der Großmutter Geld für den Monat. „Mama lernt gerade, kannst du alleine spielen?“ wird Qi zurechtgewiesen. Jene wendet sich einem Englisch-Lehrbuch zu und wiederholt den Satz „Ich habe Heimweh“.

Die Regisseurin versteht es, die Atmosphäre dieses Sommertages in kleinen Details zu vermitteln – der Wind eines Ventilators, der durch die Haare weht, sich verändernde Schatten an der Wand, Küchengeräusche, ein Sommersturm. Die Kamera verweilt oft, obwohl nicht viel passiert. Der Film endet mit der Aufnahme eines Fisches, der gegen das Glas seines Aquariums stößt und scheinbar verschwindet, gefolgt von den Worten: „Für diese verblassenden Erinnerungen…“

Es gibt einen Trend bei jungen chinesischen Filmemachern, Familiendynamiken darzustellen, die von den wirtschaftlichen Bedingungen und generationsübergreifenden Meinungsverschiedenheiten über „Lebenswerte“ beeinflusst werden. Oft entstehen Konflikte zwischen den Vorstellungen der Eltern und den tatsächlichen sozialen Bedingungen, mit den junge Menschen im heutigen China konfrontiert sind.

Zhiangs Kurzfilm drückt eine gewisse Nostalgie über ihre Kindheit aus, aber auch ein Bedürfnis, die Zeit zu verstehen, in der man aufgewachsen ist. „Wenn ich an die Jahrhundertwende zurückdenke, erinnere ich mich an ein Gefühl der Sehnsucht und des Unbehagens, das meine Familienmitglieder stillschweigend durchdrang“, so Zhiang in ihrem Statement zum Festival. Es war die Zeit nach dem Ende der Sowjetunion, als die chinesische Führung die Einführung kapitalistischer Ausbeutungsmethoden vorantrieb.

Wir erfahren nicht viel über die Fabrik, in der der Vater arbeitet, den Beruf der Mutter oder den Rest der Welt außerhalb des Familienhauses. Doch ist die extreme Anspannung und Abgehetztheit der Arbeiter zu spüren, die in den Betrieben Chinas wie in der übrigen Welt vorherrschen.

Atombombe, Herzlosigkeit und das Ende der Dichter

Eine Reihe Filme befassen sich direkt mit der Kriegsentwicklung. Dazu gehören die Animationsfilme Tako Tsubo und Kawauso, sowie die Erzählung City of Poets.

"Kawauso" von Akihito Izuhara [Photo by Studio Mangosteen]

Kawauso (jap. „Flussotter“) wurde von Akihito Izuhara inszeniert, das Drehbuch schrieb er in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Ikuko Mizokami. Der 15-minütige Animationsfilm im mit Bleistift gezeichneten, traditionellen Stil in Schwarzweiß beginnt mit der Nahaufnahme des Gesichts eines kleinen Mädchens, das sich die Ohren zuhält.

Sie öffnet die Augen und geht langsam eine Straße auf dem Land entlang, vorbei an einer Bushaltestelle, einem Supermarkt und einem Buchladen. Es sind keine Menschen in der Nähe, aber ein Flussotter taucht auf und hüpft zwitschernd dem Mädchen hinterher. Die Interaktionen der Beiden führen ins Leere – öffnet das Mädchen den Mund, um zu sprechen, entsteht kein Geräusch, und der Otter blickt sie nur fragend an. Ebenso verwirrt wirkt er, als das Mädchen ihm einen Ball überreicht.

An einer Stelle wenden sich beide dem Betrachter zu. Das Mädchen legt ihre Hände auf den Kopf des Otters, vielleicht schützend, und beide starren uns schweigend an, ihre dunklen Augen auffallend ähnlich. Sie nimmt ihre Hand weg und bringt einen kleinen Origami-Vogel zum Vorschein, der seine Flügel ausbreitet und zum Himmel flattert. Es beginnt zu regnen, und das Mädchen und der Otter setzen ihren Spaziergang fort, vorbei an verlassenen Autos und einem offenen Feld.

Nach und nach fallen Alltagsgegenstände vom Himmel, eine Gabel, ein Wecker, ein Stuhl. Man hört ein leises, ansteigendes Grollen und unangenehmes Kreischen, und zunehmend mischen sich unter die harmlosen Objekte eine Handfeuerwaffe, eine Kanone, eine Bombe, Flugzeuge, eine Granate. Schließlich fällt das größte Objekt, eine Atombombe vom Himmel. Das Mädchen legt wieder die Hände auf die Ohren und schließt die Augen. In der letzten Szene streift der Otter durch das mit Trümmern bedeckte Feld und verschwindet im Wald. Dazu ertönt ein Gitarrenlied über das Aussterben des japanischen Flussotters. „Es tut mir leid, dass ich dein Zuhause nicht schützen konnte“, lautet eine Strophe.

Der 1964 geborene Izuhara hat in seinem persönlichen Blog Werke eines palästinensischen politischen Karikaturisten geteilt, die einseitige Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg sowie die Folgen der Fukushima-Katastrophe kritisiert.

Zu seinem Kurzfilm Kawauso schrieb er: „Der Prozess, der zum Aussterben des Japanischen Fischotters führte, überschneidet sich mit der Geschichte Japans von der Meiji-Ära bis zur Nachkriegszeit, in der das Land als moderne Nation ein hohes Wirtschaftswachstum verzeichnete. Hinter den Kulissen gab es viele Kriege, verlorene Umwelt und Leben, und Arten wurden vernichtet. Ich habe einen Otter als Symbol für diese verlorene Natur gezeichnet, und ich glaube, dass die Augen des Mädchens, das ihn ansieht, zu einer Perspektive werden können, aus der wir uns unserer vergangenen Geschichte stellen können.“

Der intensive Blick des Mädchens und des Fischotters in Richtung Zuschauer, in einem Film aus dem Land von Hiroshima und Nagasaki, mahnt zum Handeln gegen Naturzerstörung und vor einem drohenden Atomkrieg.

"Tako Tsubo" von Fanny Sorgo, Eva Pedroza [Photo by Eva Pedroza, Fanny Sorgo / sixpackfilm]

Tako Tsubo, auch bekannt als Syndrom des gebrochenen Herzens, ist eine akute Herzinsuffizienz nach einem emotionalen oder physischen Auslöser.

Schon der Einstieg in den so betitelten deutsch-österreichischen Animationsfilm von Fanny Sorgo und Eva Pedrova erzeugt Schauer. Ein minutenlanger Blick auf einen tief dunkelgrünen Wald, über die ganze Leinwand, leises Rauschen und Knacken, ein paar Bäume im Wind schaukelnd. Schnitt zu einem einzelnen nackten Mann am Rande eines kleinen Teichs.

Kurz darauf sitzt er in einem Arztzimmer, er hat sich für eine Herzentfernung entschieden. Welche Leiden hat er denn, fragt der Arzt. Wenn er dies wüsste, wäre es ihm „leichter ums Herz“, so die Antwort. Es sei so, wie „auf der einen Seite wunderschöner Sonnenaufgang, und dann ist da Krieg“. Darauf der Arzt höhnisch: „Haben Sie ein bisschen Wissen, dass das ein Phänomen unserer Zeit ist. Das Herz ist nur noch eine Last.“ Eine Herzentfernung sei heutzutage gar kein Problem.

Was folgt, ist im wahrsten Sinne des Wortes blutig. Der Mann hält das blutende, gerade entfernte Herz noch eine Weile in der Hand – Herr Ham, so heißt er, ahmt Hamlet (Ham-let) aus Shakespeares berühmten Drama nach, der den Totenschädel des Hofnarren in der Hand hält. Angelehnt an dessen Monolog „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“ murmelt er: „Subjekt – Objekt – Subjekt – Objekt“.

Doch das Herz des Patienten ist schon selbständig, eine vibrierende hohe Frauenstimme ertönt aus dem zuckenden Organ, stammelt und beschimpft den bisherigen Besitzer: „Es donnert und grollt in mir, bitter der Geschmack ... Ich bin im Gewitter ... Mutter ... Mitleid“, und schließlich ergießt sich der Blutstrom auf den Boden. Der Arzt kommt mit Bodenwischer: „Das ist ja eine Sauerei. Das Blutvergießen muss langsam ein Ende nehmen. Sie veranstalten ja in diesem Raum nahezu dieselbe Tragödie, mit der Sie nichts mehr zu tun haben wollen.“

Die surrealistische Reflexion endet am selben Teich wie am Anfang, doch er ist jetzt rot von Blut. Herr Ham sitzt wieder nackt am Ufer, als eine Frau auftaucht, mit blutigen Löchern anstelle der Lunge. Es folgt ein grotesker Dialog: „Warum haben Sie nicht aufgehört zu rauchen, statt sich die Lunge entfernen zu lassen.“ – „Warum haben Sie nicht aufgehört zu lieben, statt sich das Herz entfernen zu lassen.“ Ham antwortet, es sei schwerer, mit dem Lieben aufzuhören, als mit dem Rauchen, sie darauf: „Ich liebe aber das Rauchen.“

Gegen jene, die daraus vielleicht ein amüsiertes Achselzucken oder Fatalismus ableiten, stimmt das Schlussbild des Waldes mit dem Song „Sweet Charity“ der Musikerin Mary Ocher ein: „Will you come on down when I'm on my knees?” „Sure I will!“ – ein Aufruf zu gegenseitiger menschlicher Hilfe.

City of Poets von Sara Rajaei besteht aus einer Montage von Bildern und Filmausschnitten, viele davon aus der Familienchronik der Regisseurin, unterlegt mit Geräuschen und einer gesprochenen autobiographischen Erzählung.

Wir erfahren, dass die Stadt der Dichter zwei Jahrzehnte vor einem unbekannten Krieg errichtet wurde, um Raffineriearbeiter und Universitätsdozenten unterzubringen. Die Straßen der Stadt wurden nach iranischen Dichtern benannt. Das Leben der Menschen mutet fast utopisch an – lächelnde Erwachsene, lachende und spielende Kinder. „Die Bewohner erfanden Rätsel und Spiele für die Touristen und sagten Gedichte auf anstelle von Adressen.“

Doch dann weichen die Rufe der Moschee, die Vögel und andere Stadtgeräusche den Sirenen und einer Warnung vor einem Luftangriff! Die Erzählerin erklärt, dass seit dem Krieg und dem Flüchtlingsstrom neue Viertel gebaut werden mussten und den Stadtplanern die Dichternamen ausgingen. Während der Krieg anhält, werden die Straßen zusehends nach nationalen Helden, Wissenschaftlern, Bergen, Blumen und Athleten benannt. Die Menschen vergessen das Dichten. Am Ende des Krieges sind die Straßen nach Märtyrern benannt, und die Bewohner verlieren sich in den unbekannten Straßen.

Die Frauen auf den Bildern, die zuvor bunte Kleidung trugen, tragen nun häufig Bedeckung, ihre Gesichter düster. Auch die Kinder haben ernste Mienen. Die Erzählsprache wechselt zu Farsi, und wir erfahren, dass der Maulbeerbaum im Garten der Familie eine symbolische Bedeutung erlangt hat. Er trägt rote Maulbeeren, was von einigen als schlechtes Omen angesehen wird. Die Mutter wird ängstlich und beschließt, jeden Tag zu tanzen, um mögliche böse Geister zu besänftigen.

An dem Tag, an dem das Regime das Tanzen verbietet, verbrennt die Familie den Baum. Dann verbietet das Regime auch Musik, und alle Geräusche im Film verstummen. „Eines Nachts haben wir uns alle im Garten versammelt. Wir machten ein großes Feuer und verbrannten alle Musik, alle Fotografien und all unsere Bücher.“ Somit endet der Film.

Wir sehen keine Gewalt, keine Leichen (nur ein Soldat ist im Film zu sehen) und die Erzählerin geht nicht näher auf diese Themen ein. Dennoch wird der Schrecken des Krieges und der Diktatur in den Gesichtern der Menschen auf den Fotos und durch den schleichenden Verlust all ihrer Freiheiten eindrücklich. Die Auslassung spezifischer Details bezüglich des Landes, des Zeitrahmens oder der politischen Figuren verleiht der Geschichte einen universellen Charakter. Dies ist besonders effektiv im Angesicht dessen, dass die gesamte Region des Nahen Ostens in den letzten drei Jahrzehnten in Kriege verwickelt war. Sara Rajaei wurde 1976 im Iran geboren und ist 1998 in die Niederlande ausgewandert. Ihr Leben wurde geprägt von der iranischen Revolution und der anschließenden Machtübernahme der Mullahs sowie dem Iran-Irak-Krieg, der von 1980 bis 1988 andauerte.

Tiere und Menschen

In einer Zeit, in der die alte, gewohnte Gesellschaftsordnung überraschend schnell zusammenstürzt, verstärkt sich die Einsamkeit und zugleich Sehnsucht nach menschlichem Zusammenhalt. So zeigt Adieu tortue von Selin Öksüzoglu, wie ein fünfjähriges türkisches Mädchen, das ihre Mutter verloren hat, mit einer jungen Frau, die aus Europa zurückgekehrt ist, zusammen durch die Hügellandschaft am Schwarzen Meer streifen. Beide treibt es zurück zu ihren Vätern.

Der chilenische Film Al sol, lejos del centro (Towards the Sun, Far from the Center) von Luciana Merino und Pascal Viveros lässt bei flirrender Hitze die Kamera über die Häuser Santiagos schwenken und vermittelt den Eindruck der Menschenleere. Unten ganz klein ein Auto, eine kleine Gymnastikgruppe an einer Ecke und schließlich zwei Frauen, die erst am Ende auf einem Kühlturm des Kraftwerks einen Platz für ihre Liebe finden.

"Les animaux vont mieux" von Nathan Ghali [Photo by Nathan Ghali ]

Den Tieren geht es vielleicht besser? Dies legt der Film Les Animaux vont mieux (Lick a Wound) von Nathan Ghali nahe. Mit 3D-animierten Objekten, die in reale Umgebungen eingefügt werden, begleiten wir eine Gruppe von Tieren, die sich unter einer verlassenen Kirche eingerichtet haben. Sie leben fernab von den Menschen, die im Film praktisch nicht vorkommen.

Die Gedanken der Tiere werden durch Wandprojektionen in Wörtern und Bildern vermittelt. Verschiedene Arten leben in einer Umgebung aus verfallenen Möbeln und diverser, menschgemachter Gegenstände friedlich zusammen. Sie geben aufeinander acht, ob groß oder klein.

Ein Waschbär durchwühlt einen Berg aus Energy Drinks und erklärt, er würde die Menschen hassen, die ihn als Schädling betrachten. Er schwört Rache. Später setzt er ein verlassenes Auto mit Molotow-Cocktails in Brand.

Ein kleiner Vogel träumt davon, durch ein Naturkundemuseum zu fliegen. Die ausgestopften Tiere in der Ausstellung erwachen zum Leben, und das Museum bricht in sich zusammen.

Nicht alle Menschen sind verhasst. Eine Katze erinnert sich an die Zeit, als sie mit ihrer Familie lebte. Die Mutter hat immer ihre Würfe ertränkt, doch der kleine Sohn, der einige Katzenjungen gerettet hat, ist ihr lieb. Während Fotos des Jungen an der Wand projiziert werden, sitzt sie still davor.

Die Animationen sind zum Teil mühsam detailgetreu, bis hin zum Fell, ein Beweis für die Sorgfalt und Mühe, die in den Low-Budget-Kurzfilm hineingesteckt wurden.

Der Film enthält eine gute Portion Weltuntergangsstimmung und vielleicht auch Romantisierung der vergangenen Welt. Aber er klagt auch die heutige kapitalistische Gesellschaftsordnung an, versagt zu haben. In Anlehnung an Mephistos Spruch in Goethes „Faust“ – „Er nennts ‚Vernunft‘ und brauchts allein, um tierischer als jedes Tier zu sein!“ – erscheinen die Tiere menschlicher als die Menschen selbst.

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