Perspektive

Der Wahlsieg Mileis und der Zusammenbruch des Peronismus und der bürgerlichen Demokratie in Argentinien

Die Wahl des faschistischen TV-Stars Javier Milei zum argentinischen Präsidenten am 19. November hat globale politische Implikationen für die Arbeiterklasse. Milei setzte sich mit einem schockierenden Vorsprung von 11 Prozent gegen den peronistischen Kandidaten Sergio Massa durch, den Wirtschaftsminister der amtierenden Regierung.

Javier Milei, neu gewählter Präsident Argentiniens, bei einer Rede in seiner Wahlkampfzentrale in Buenos Aires am Sonntag, 13. August 2023 [AP Photo/Natacha Pisarenko]

In allen größeren Städten, mit Ausnahme einiger Viertel von Buenos Aires, und in 20 von 23 Provinzen gewann Milei, der erst vor zwei Jahren in die offizielle Politik eingetreten ist, bei den Wahlen die Mehrheit. Milei ist bekannt für seine an Hitler erinnernden Tiraden gegen Sozialausgaben und gegen die Armen, seine Verehrung für den US-Imperialismus und Israel und seinen Obskurantismus. So wird ihm nachgesagt, er hole sich Ratschläge von seinem verstorbenen Hund.

Die tonangebenden Kreise der argentinischen herrschenden Klasse und des Imperialismus haben sich im Großen und Ganzen hinter Milei gestellt. Sie unterstützen seine „Schocktherapie“ für Sozialkürzungen und Privatisierungen sowie die militärische und paramilitärische Aufrüstung im Inneren.

Beispielsweise zitiert Bloomberg einen argentinischen Tycoon mit den Worten: „Es braucht einen Wahnsinnigen, um das zu tun, was nötig ist, um das Land voranzubringen.“ Der ehemalige Präsident Mauricio Macri, der Milei bei der Regierungsbildung die Unterstützung seiner Partei angeboten hat, rief im staatlichen Fernsehen Mileis „revolutionären Kern der Jugend“ dazu auf, gegen die „Orks“ vorzugehen, die gegen seine Politik protestieren. Es war ein unverhohlener Aufruf zur Bildung von faschistischen Banden.

Die amtierende Vizepräsidentin und De-facto-Führerin des Peronismus, Cristina Kirchner, sagte eine Italienreise ab und lud ihre faschistische Nachfolgerin Victoria Villarruel zu Gesprächen über die Regierungsübergabe ein. Villaruel bezeichnete dieses Treffen als „historisch für alle Argentinier“.

Die Machtübernahme von Milei und Villarruel am 10. Dezember ist in der Tat historisch, denn sie räumt mit der Illusion auf, dass die argentinische Gesellschaft seit dem Ende der brutalen, von den USA unterstützten Militärdiktatur vor nur vierzig Jahren immun gegen den Faschismus ist.

Entsprechend fasste der Journalist Emilio Gullo zusammen: „Wie in einem trojanischen Pferd, aber mit grellen Neonlichtern, ist die Militärpartei … gerade auf demokratische Weise in die Regierung eingezogen. Villarruel leugnet nicht nur die symbolische Zahl der 30.000 Verschwundenen und verunglimpft unaufhörlich die Mütter der Plaza de Mayo, sondern ist auch die Tochter und Nichte verurteilter Soldaten und hat die Unterstützung der Folterer, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftiert sind.“

Die Gefahr des Faschismus ist ein globales Phänomen, das keineswegs unterschätzt werden darf. Figuren wie Milei in Argentinien, Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien, Meloni in Italien und Geert Wilders in den Niederlanden, um nur einige zu nennen, werden durch die herrschenden Kreise an die Spitze des Staates gebracht.

Zweifellos fühlen sich Milei und die argentinische herrschende Klasse dadurch ermutigt, dass die Biden-Administration und die europäischen Mächte Israels Gemetzel in Gaza gutheißen, und interpretieren dies als Signal, dass dieselbe Art von völkermörderischer Gewalt auch gegen die verarmte Arbeiterklasse in ihrem eigenen Land unterstützt würde.

Der Faschismus besteht jedoch nicht nur aus brutaler Unterdrückung und ultranationalistischer oder bigotter Rhetorik. Er ist eine Methode der kapitalistischen Herrschaft, die darauf abzielt, alle Arbeiterorganisationen und Arbeiterführer zu vernichten. Der Sieg des Faschismus setzt voraus, dass die Arbeiterklasse in einer Welle revolutionärer Kämpfe eine historische und demoralisierende Niederlage erleidet.

Eine solche Niederlage hat es in Argentinien nicht gegeben. Tatsächlich waren die beiden Jahre vor Mileis Wahlsieg davon geprägt, dass im Zuge des weltweiten Aufschwungs von Arbeiterkämpfen gegen Kapitalismus und Krieg in Argentinien im Jahr 2022 mehr Straßenproteste stattfanden als je zuvor. Außerdem kam es zu einer Serie spontaner Streiks gegen die Spardiktate des IWF und die steigenden Lebenshaltungskosten.

In den Städten, in denen sich diese Kämpfe konzentrierten – Santa Cruz, Salta, Jujuy, Misiones und Chubut – sowie unter den besonders verarmten und jüngeren Arbeitern, die vom informellen Sektor und Sozialhilfe abhängig sind und zahlreiche Massendemonstrationen in Buenos Aires anführten, stimmte die große Mehrheit für Milei.

Ein derart widersprüchliches gesellschaftspolitisches Phänomen lässt sich nur dadurch erklären, dass die höchst progressive objektive Bewegung der argentinischen Arbeiterklasse in keiner der bestehenden Parteien der so genannten „Linken“ einen politischen Ausdruck finden kann. Im Gegenteil, die Arbeiter geraten zunehmend in Konflikt mit all diesen Parteien und der von ihnen vertretenen kapitalistischen Ordnung.

Sollten sich Arbeiter noch Illusionen über die wahnwitzige „anarcho-kapitalistische“ Wirtschaftspolitik von Milei hingeben, so werden sich diese in der Hitze der Massenkämpfe gegen die bevorstehenden drakonischen Angriffe der neuen Regierung in Luft auflösen.

Ungeachtet der politischen Verwirrung bedeutet die massenhafte Stimmabgabe für den faschistischen Kandidaten nicht, dass die argentinischen Arbeiter sein Programm der extremen kapitalistischen Ausbeutung gutheißen würden. Es war vor allem ein Protestvotum gegen das verkommene bürgerliche Establishment, das mit dem Peronismus identifiziert wird.

Milei ist kein „Unfall“, wie die Pseudolinken behaupten. Dasselbe sagten sie schon über Trump und Bolsonaro, die in den USA und Brasilien nach faschistischen Putschversuchen 2021 bzw. 2023 weiterhin die wichtigste politische Opposition bilden. Auch Milei ist das Produkt ganz bestimmter historischer und materieller Umstände.

Als Erstes ist von der Massenunterstützung für den Peronismus, das Flaggschiff der bürgerlich-nationalistischen Bewegungen in Lateinamerika, nichts mehr übrig. Die von Juan Domingo Perón angeführte Bewegung hatte seit ihrer Machtübernahme 1946 versprochen, die Rechte der Arbeiter zu vertreten und Gesundheitsversorgung und Bildung für alle bereitzustellen. Später hatte sie das Phänomen Evita gepflegt und den Anspruch erhoben, die Interessen der Armen und Unterdrückten zur Regierungspolitik zu machen.

Was die Arbeiter betrifft, so besteht der peronistische Apparat heute aus einem Haufen korrupter Beamter und skrupelloser Gewerkschaftsbürokraten, die in einem Klüngel das Diktat der Konzerne und Banken durchsetzen.

Hintergrund der heutigen turbulenten politischen Entwicklungen ist der Abstieg Argentiniens, der drittgrößten Volkswirtschaft der Region, in eine der schwersten Krisen seiner Geschichte. Die extrem hohe Inflation, die den Lebensstandard von Millionen dezimiert, ist das Ergebnis der tiefen Krise des Kapitalismus, die gekennzeichnet ist durch Krieg, die Coronapandemie sowie Zinserhöhungen und andere Schocks auf den Weltmärkten, die jedes Land betreffen.

Die Veränderung der objektiven Weltlage lässt keinen Stein auf dem anderen von all den bürgerlich-nationalistischen, sozialdemokratischen und sonstigen national-reformistischen Bewegungen, auf die sich der Imperialismus gestützt hat, um die Klassengegensätze zu dämpfen. Wie sie zerfallen auch die Regierungen und Parteien der so genannten „rosa Flut“, die im letzten Vierteljahrhundert in Lateinamerika entstanden sind.

Der Peronismus reißt alle Organisationen der argentinischen Pseudolinken mit sich in den Abgrund. Ohne ihre Dienste hätte der Peronismus das politische Leben in Argentinien nicht weiter dominieren können, nachdem er Anfang der 1970er Jahre praktisch alle wesentlichen sozialen Reformen aufgegeben und die Arbeiter wiederholt betrogen hatte.

Zahlreiche Kräfte, die sich als Sozialisten bezeichnen, haben dem peronistischen Apparat einen linken Deckmantel verschafft. Nach der stalinistischen Kommunistischen Partei wurde die bekannteste dieser Tendenzen von Nahuel Moreno gegründet, der 1963 mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) brach und dann für die Auflösung mehrerer trotzkistischer Organisationen in Lateinamerika sorgte.

Seit den 1950er Jahren legt die morenoistische Tendenz einen reaktionären nationalen Opportunismus an den Tag. Charakteristisch ist ihre unverhohlene Unterordnung unter den Peronismus in den Gewerkschaften und Regierungen bis hin zum Militärputsch von 1976. Nachdem er einen revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gegen das peronistische bürgerliche Regime blockiert hatte, nahm Moreno die von der CIA unterstützte Diktatur passiv hin und bezeichnete sie sogar als „die demokratischste in Lateinamerika“. Moreno selbst floh ins Ausland, erklärte den Mitgliedern seiner Sozialistischen Arbeiterpartei (PST) jedoch, sie sollten sich keine Sorgen machen und weiterhin offen politisch arbeiten. Etwa 100 PST-Kämpfer sind daraufhin „verschwunden“, Hunderte wurden verhaftet und gefoltert.

Heute gehen Morenos Nachfolger und ihre Koalitionspartner in der „Front der Linken und ArbeiterInnen – Einheit“ (FIT-U) den gleichen Weg.

Die explosive kapitalistische Krise und der Zusammenbruch des Peronismus machen den Weg frei zur Lösung der historischen Aufgabe, eine echte revolutionäre Führung in der Arbeiterklasse aufzubauen. Dies erfordert den Aufbau von Aktions- und Verteidigungskomitees, die unabhängig und gegen den peronistischen Gewerkschafts- und politischen Apparat gerichtet sind. Nur so ist es möglich, Mileis Angriffen entgegenzutreten und einen Kampf um die Macht vorzubereiten – in politischer Zusammenarbeit mit den Arbeitern in ganz Lateinamerika, in den imperialistischen Zentren und darüber hinaus.

Diese historische Aufgabe kann nur in unversöhnlichem Gegensatz zu den morenoistischen und pablistischen Feinden des Trotzkismus verwirklicht werden, die immer offener ein konterrevolutionäres Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie und dem Imperialismus eingehen.

Im Einklang mit ihrer Unterstützung für den Krieg der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine haben sich die FIT-U-Gruppen hinter den peronistischen Kandidaten Sergio Massa gestellt, obwohl dieser von den Morenoisten selbst als „Kandidat der US-Botschaft' bezeichnet wurde und ein klarer Befürworter des zionistischen Völkermords in Gaza ist.

Jetzt versuchen die Parteien der FIT-U, die Arbeiterklasse einzulullen, indem sie die Gefahr einer Diktatur herunterspielen. Sich selbst reden sie ein, dass das Ergebnis nicht anders sein wird als bei früheren Regierungen, und sie setzen ihre Hoffnungen auf den stinkenden Leichnam der peronistischen Gewerkschaftsbürokratie.

Der Trotzkismus ist den Vertretern dieses Programms ein Gräuel. Die von Leo Trotzki entwickelte Theorie der permanenten Revolution, die die russische Revolution 1917 beflügelte, ist durch den Bankrott des Peronismus und aller anderen bürgerlich-nationalistischen Bewegungen vollauf bestätigt worden. Sie besagt, dass der Kampf für die Befreiung vom Imperialismus und andere demokratische Aufgaben in einem rückständigen Land nur vom Proletariat als Teil der sozialistischen Weltrevolution geführt werden kann. Diese Perspektive ist vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) gegen die Versuche der pablistischen Revisionisten verteidigt worden, die trotzkistische Bewegung im Stalinismus, Castroismus und anderen Formen des bürgerlichen Nationalismus aufzulösen.

Nur durch eine gründliche Aneignung und durch das Studium der Geschichte, der Traditionen und des Programms des IKVI, als erster Schritt zum Aufbau von Sektionen dieser Weltpartei der sozialistischen Revolution in Argentinien und international, wird eine revolutionäre Avantgarde in der Arbeiterklasse entstehen. Dabei gilt es keine Zeit zu verlieren.

Loading