Perspektive

Eine Insel im Zentrum der Weltgeschichte: Trotzki auf Prinkipo

Dies ist die Rede von David North, Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, zur Veranstaltung „Eine Insel im Zentrum der Weltgeschichte: Trotzki auf Prinkipo“. Sie fand am 20. August auf der türkischen Insel Prinkipo im Marmarameer vor der Küste Istanbuls statt.

Die Gedenkveranstaltung erinnerte an Trotzkis vierjähriges Exil auf der Insel, das von 1929 bis 1933 andauerte. Mehr als 160 Personen aus dem ganzen Land waren persönlich zugegen, darüber hinaus wurde die Veranstaltung per Livestream weltweit übertragen. Eine vollständige Aufzeichnung ist unter Trotsky.com verfügbar.

Gestattet mir, im Namen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und seiner Mitglieder und Unterstützer auf der ganzen Welt Bürgermeister Erdem Gül und dem Vorsitzenden des Stadtrats von Adalar, Iskender Özturanli, unseren Dank dafür auszusprechen, dass sie diese wichtige Würdigung des Lebens von Leo Trotzki ausrichten. Ich möchte mich auch bei Professor Dr. Mehmet Alkan dafür bedanken, dass er sich bereit erklärt hat, die heutige Veranstaltung zu moderieren. Etwas mehr als neun Monate sind vergangen, seit ich im November 2022 mit Bürgermeister Gül und dem Stadtratsvorsitzenden Özturanli zusammentraf, um zu besprechen, ob es möglich wäre, mit einer Veranstaltung an Trotzkis Jahre auf Prinkipo zu erinnern. Sie begrüßten den Vorschlag und erarbeiteten einen genauen Plan für seine praktische Umsetzung, dessen Ergebnis unsere heutige Zusammenkunft ist.

David Norths Rede zur Trotzki-Gedenkveranstaltung auf Prinkipo

Mit der heutigen Veranstaltung wird auch an das tragische Ende von Trotzkis Leben erinnert. Vor genau 83 Jahren, am 20. August 1940, wurde Trotzki in Coyoacán, einem Vorort von Mexiko-Stadt, von einem stalinistischen Attentäter niedergeschlagen. Er starb am nächsten Tag. Der Schlag, der gegen Trotzki geführt wurde, richtete sich nicht nur gegen einen Einzelnen. Es war ein krimineller Akt konterrevolutionärer Gewalt, der sich gegen die internationale Arbeiterklasse, den Kampf für Sozialismus und die Befreiung der Menschheit von kapitalistischer Unterdrückung richtete.

Der Revolutionsführer wurde ermordet. Aber die von ihm gegründete Partei, die Vierte Internationale, hat überlebt, und die Sache, für die er gekämpft hat – der Sieg der sozialistischen Weltrevolution – besteht fort und gewinnt an Stärke.

Unsere Gedenkveranstaltung steht unter dem Titel „Eine Insel im Zentrum der Weltgeschichte: Trotzki auf Prinkipo“. Dieser Titel enthält nicht die geringste Übertreibung. Von Trotzkis Ankunft im Februar 1929 bis zu seiner Abreise im Juli 1933 war diese Insel Zufluchtsort des größten marxistischen Theoretikers und Revolutionsführers seiner Zeit. Darüber hinaus waren diese vier Jahre von großer historischer Bedeutung. In die Zeit von Trotzkis Exil in Prinkipo fallen zwei Ereignisse, die den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts bestimmen sollten: der Börsenkrach an der Wall Street im Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einleitete, und das explosionsartige Wachstum der Nazipartei in Deutschland, das im Januar 1933 in Hitlers Machtübernahme gipfelte. Trotzkis Analyse dieser Ereignisse und ihrer Auswirkungen war unvergleichlich. Er lebte auf einer kleinen Insel, hatte keinen Zugang zu einem Telefon, verfolgte das Weltgeschehen aus Zeitungen und Briefen, die Wochen brauchten, um ihn zu erreichen, und verfügte dennoch über ein Verständnis der Ereignisse, das von keinem seiner Zeitgenossen übertroffen wurde. Hindernisse geografischer Art konnten seine Beobachtungsgabe und seinen strategischen Weitblick nicht mindern.

Ulaş Ateşçi, David North, Dr. Mehmet Alkan

Trotzki kam nicht freiwillig in die Türkei. Seit Januar 1928, nach seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Russlands und der Kommunistischen Internationale, lebte er im Exil in Alma Ata, im sowjetischen Kasachstan. Stalin hatte gehofft, dass Trotzki Tausende Kilometer von Moskau entfernt zu isoliert sein würde, um die im Oktober 1923 gegründete Linke Opposition zu führen.

Doch die brutale Verfolgung der Linken Opposition konnte ihren Einfluss nicht zerstören. Trotzkis Kritik an der Bürokratisierung der Kommunistischen Partei und des Sowjetstaats, an der Zerstörung aller Überreste der Arbeiterdemokratie und an den katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Folgen von Stalins Autarkieprogramm des „Sozialismus in einem Land“ – d. h. der Ablehnung des internationalistischen Programms der permanenten Revolution, auf dem die Oktoberrevolution beruht hatte – wurde durch die Ereignisse wiederholt bestätigt.

Am 16. Dezember 1928 erhielt Trotzki von einem Sonderbeauftragten der sowjetischen Geheimpolizei GPU – also von Stalin – die Warnung, dass weitere Maßnahmen ergriffen würden, um ihn physisch zu isolieren, wenn er seine politischen Aktivitäten nicht aufgebe. Trotzki reagierte auf diese Drohung sofort mit einer schriftlichen Antwort an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und das Präsidium der Kommunistischen Internationale:

Die mir gestellte Forderung, auf die politische Tätigkeit zu verzichten, bedeutet die Forderung, auf den Kampf für die Interessen des internationalen Proletariats zu verzichten, einen Kampf, den ich ununterbrochen zweiunddreißig Jahre führe, das heißt während meines ganzen bewussten Lebens. Der Versuch, diese Tätigkeit als eine „konterrevolutionäre“ hinzustellen, stammt von jenen, die ich vor dem Angesicht des internationalen Proletariats beschuldige, die Grundlehren von Marx und Lenin mit Füßen zu treten, die historischen Interessen der Weltrevolution zu verletzen, mit den Traditionen und Vermächtnissen des Oktober gebrochen zu haben und unbewusst, aber umso bedrohlicher, den Thermidor vorzubereiten.

Der Verzicht auf politische Tätigkeit würde bedeuten die Einstellung des Kampfes gegen die Blindheit der heutigen Führung der Kommunistischen Partei, die durch ihre opportunistische Unfähigkeit, eine proletarische Politik im großen Maßstab zu führen, zu den objektiven Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaues in der USSR immer mehr politische Hindernisse häuft; es würde den Verzicht auf den Kampf gegen das heute herrschende Parteiregime bedeuten, das den anwachsenden Druck der feindlichen Klassen auf die proletarische Avantgarde widerspiegelt; es würde bedeuten, sich passiv mit der wirtschaftlichen Politik des Opportunismus abzufinden, der die Pfeiler der Diktatur des Proletariats untergräbt und entwurzelt, seine materielle und kulturelle Entwicklung aufhält und gleichzeitig dem Bündnis der Arbeiter mit den werktätigen Bauern, dieser Basis der Sowjetmacht, harte Schläge zufügt.[1]

Angesichts dieses Widerstands klammerte sich Stalin – der zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage war, seinen unnachgiebigen marxistischen Feind zu ermorden – an die Idee, dass Trotzkis vollständige Entfernung aus dem Gebiet der Sowjetunion zugleich bedeuten würde, ihm seine Handlungsfähigkeit als Gegner des bürokratischen Regimes zu rauben.

Am 18. Januar 1929 erklärte die GPU, die Vollstreckerin von Stalins Befehlen, dass Trotzki aus der Sowjetunion deportiert werden würde. Als Trotzki von diesem Beschluss erfuhr, verurteilte er ihn als „seinem Wesen nach verbrecherisch und seiner Form nach ungesetzlich“.

Am 12. Februar erreichte der große Revolutionär nach einer beschwerlichen 22-tägigen Reise, bei der Trotzki, seine Frau Natalja Sedowa und sein Sohn Lew Sedow fast 6.000 Kilometer zurückgelegt hatten, die Stadt, die damals noch Konstantinopel hieß. Er hatte vom türkischen Präsidenten Kemal Atatürk ein Visum erhalten. Bevor er das Schiff verließ, übergab Trotzki einem Regierungsbeamten eine Erklärung, die an den Präsidenten gerichtet war. Sie lautete:

Sehr geehrter Herr, am Tor von Konstantinopel habe ich die Ehre, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ich keinesfalls aus eigener Wahl an die türkische Grenze gekommen bin und dass ich diese Grenze nur der Gewalt gehorchend überschreite. Ich bitte Sie, Herr Präsident, meine dementsprechenden Gefühle entgegenzunehmen.

L. Trotzki, 12. Februar 1929[2]

Trotzki verbrachte die ersten Wochen seines Exils in Istanbul. Im März siedelte er nach Prinkipo über, wo er mit nur kurzen Unterbrechungen bis Juli 1933 lebte.

Stalin erkannte bald, dass ihm ein schwerer Fehler unterlaufen war, als er Trotzki dem direkten Zuständigkeitsgebiet der GPU entzogen hatte. Doch warum hatte Stalin Ende 1928 geglaubt, er könne Trotzki politisch entwaffnen, indem er ihn aus der Sowjetunion verbannte? Die Antwort liegt im Charakter des Regimes, dessen brutale Verkörperung Stalin war. Die von Stalin ausgeübte Macht war die Macht eines gewaltigen bürokratischen Apparates. Stalin regierte durch die Bürokratie. Er übte seinen Einfluss über die Geheimpolizei aus. Er antwortete seinen Gegnern nicht mit Ideen und Argumenten, sondern mit Haftbefehlen und Todesurteilen.

Obwohl Trotzki aller herkömmlichen Machtmittel beraubt war, verfügte er immer noch über die Aufmerksamkeit der fortschrittlichsten Schichten der Arbeiterklasse und der sozialistischen Intelligenz. Trotzki war nicht einfach ein Exilant. Er verkörperte die revolutionäre Arbeiterregierung im Exil, deren Machteroberung durch einen erneuten revolutionären Aufschwung der Arbeiterklasse in der Sowjetunion, in den imperialistischen Zentren und den unruhigen Kolonien nicht ausgeschlossen werden konnte.

Aus diesem Grund blieb Trotzki in allen imperialistischen Ländern eine Persona non grata. Erst 1933 erhielt Trotzki endlich ein Einreisevisum für Frankreich, und auch das nur unter sehr restriktiven Bedingungen.

Trotzki beschrieb Prinkipo als „eine Insel der Ruhe und des Vergessens“ und „ein schöner Ort, um mit der Feder zu arbeiten, besonders im Herbst und Winter, wenn die Insel völlig verlassen ist und die Waldschnepfen im Park erscheinen“. In der Tat sind in den Jahren auf Prinkipo Werke von außerordentlicher Brillanz aus seiner Feder geflossen.

Trotzki schuf ein wahres Meisterwerk der Weltliteratur: seine dreibändige Geschichte der Russischen Revolution und auch Mein Leben, eine der literarisch schönsten, faszinierendsten, historisch objektivsten und ehrlichsten aller politischen Autobiografien. Als Antwort auf Kritiker aus dem Milieu der stalinistischen Mitläufer, die den „Subjektivismus“ des Buches anprangerten, bemerkte Trotzki lakonisch, dass es noch keinem Autor gelungen sei, eine Autobiografie zu schreiben, ohne sich selbst zu erwähnen.

Und doch werden diese beiden Werke ungeachtet ihres brillanten und die Zeit überdauernden Charakters in einem unmittelbar politischen Sinne etwas von Trotzkis Kommentaren zu den Ereignissen in Deutschland überschattet. Aus einer Entfernung von 2.000 Kilometern war Trotzkis Analyse des raschen Wachstums der Nazibewegung, seine vernichtende Anklage der politischen Feigheit sowohl der sozialdemokratischen als auch der kommunistischen Partei – der beiden Massenorganisationen der deutschen Arbeiterklasse – im Angesicht der faschistischen Gefahr ohnegleichen. Er warnte vor den Folgen eines Sieges der Nazis und rief zu einer Einheitsfront aller Parteien und Organisationen der Arbeiterklasse auf, um Hitlers Machtübernahme zu verhindern.

„Arbeiter-Kommunisten“, schrieb Trotzki 1931, „Ihr seid Hunderttausende, Millionen; ihr könnt nirgends hinfahren, für euch gibt es nicht genug Reisepässe. Wenn der Faschismus zur Macht gelangt, wird er wie ein furchtbarer Panzer über eure Schädel und Wirbelsäulen hinwegrollen. Rettung liegt nur in unbarmherzigem Kampf. Und Sieg im Kampf kann nur das Bündnis mit den sozialdemokratischen Arbeitern bringen. Eilt, Arbeiter-Kommunisten, es bleibt euch wenig Zeit!“[3]

Die stalinistische Kommunistische Partei denunzierte die Sozialdemokratische Partei als „sozialfaschistisch“. Damit meinte sie, dass es keinen Unterschied zwischen einer reformistischen Massenorganisation der Arbeiterklasse und der Nazipartei gab, die von Millionen politisch umnachteter und reaktionärer Kleinbürger unterstützt wurde und sich der vollständigen Vernichtung der sozialistischen und kommunistischen Organisationen verschrieben hatte. Die Ablehnung eines gemeinsamen Abwehrkampfs gegen die Nazis durch die stalinistische Organisation bedeutete in der Praxis, dass sie alle Bemühungen einstellte, die Unterstützung der sozialdemokratischen Arbeiter zu gewinnen. Sie lähmte die Arbeiterklasse und ebnete Hitler den Weg zur Macht, die er am 30. Januar 1933 übernahm.

Selbst nach dieser politischen Katastrophe, die zur Errichtung einer barbarischen Diktatur und zur völligen Zerschlagung der riesigen deutschen Arbeiterbewegung führte, beharrten das stalinistische Regime in Moskau und die Kommunistische Internationale weiterhin darauf, dass die von der Kommunistischen Partei Deutschlands verfolgte Politik richtig und über jede Kritik erhaben sei.

Seit der Bildung der Linken Opposition hatte Trotzki das Programm verfolgt, die Kommunistische Partei Russlands und die Kommunistische Internationale zu reformieren. Doch die Weigerung der stalinistischen Parteien, eine Diskussion über die deutsche Katastrophe zuzulassen, veranlasste Trotzki zu dem Schluss, dass sich die auf die Reform der Dritten Internationale gerichtete Politik erschöpft hatte. Am 15. Juli 1933, zwei Tage vor seiner Abreise aus Prinkipo, veröffentlichte Trotzki einen Aufruf zum Aufbau einer neuen Internationale. Er schrieb:

Die Moskauer Leitung erklärte nicht nur die Politik, die Hitlers Sieg gesichert hatte, für fehlerfrei, sondern verbot, über das Geschehene zu diskutieren. Und diese schmachvolle Verteidigung wurde weder zurückgewiesen, noch auch nur angegriffen. Kein nationaler Kongress, kein internationaler Kongress, keine Diskussion in den Parteiversammlungen, keine Polemik in der Presse! Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat und die demütig derartige Entgleisungen von Seiten der Bürokratie unterstützt, zeigt dadurch, dass sie tot ist und nichts sie wieder beleben wird. Das offen und mit klarer Stimme zu sagen, ist eine wahrhafte Pflicht gegenüber dem Proletariat und seiner Zukunft. In unserer gesamten zukünftigen Arbeit müssen wir von dem historischen Zusammenbruch der offiziellen Kommunistischen Internationale ausgehen.[4]

So begann auf dieser Insel vor 90 Jahren der Kampf für die Vierte Internationale. Der Aufruf Trotzkis setzte einen Prozess der programmatischen Klärung und organisatorischen Vorbereitung in Gang, der im September 1938 in der offiziellen Gründung der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution gipfelte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Stalin bereits die drei berüchtigten Prozesse in Moskau inszeniert und alle wichtigen Führer der Oktoberrevolution ermordet. Der stalinistische Terror, der über die Sowjetunion hereinbrach, hatte die Ausmaße eines wahnwitzen Völkermordes angenommen, bei dem systematisch jeder bedeutende Vertreter der marxistischen Politik und Kultur ins Visier genommen wurde.

Publikum bei der Veranstaltung auf Prinkipo

Doch selbst als die Zahl der Opfer in die Hunderttausende ging, nahm Stalins Angst vor Trotzkis Einfluss nicht ab. Stalin befürchtete, dass der Ausbruch des Krieges mit Nazi-Deutschland – ein Ereignis, das durch seine eigene katastrophale Politik fast unvermeidlich geworden war – eine Welle von Forderungen der Bevölkerung nach der Rückkehr Trotzkis, des Gründers und Führers der Roten Armee, aus dem Exil auslösen würde.

Der postsowjetische Historiker und Biograf General Dmitri Wolkogonow, der Zugang zu den Privatunterlagen des Diktators erhielt, dokumentierte Stalins tiefe Furcht vor Trotzki. Er schrieb:

Stalin fürchtete ihn nach wie vor, und ihn beunruhigte das Gefühl, dass er niemals würde loskommen können von diesem Phantom... Stalin erinnerte sich an Trotzki mit Ingrimm. Während er den Reden Molotows, Kaganowitschs, Chrustschows oder Schdanows zuhörte, wird er gedacht haben, wie viel klüger war doch Trotzki als diese Funktionäre! Keiner seiner Mitarbeiter war mit Trotzki zu vergleichen. Weder als Organisator noch als Redner, noch als Publizist. Und Trotzki war klüger und talentierter als er selbst... Wenn Stalin die Übersetzungen von Trotzkis Büchern las, [wie Stalins Schule der FälschungEin offener Brief an die Mitglieder der Bolschewistischen Partei oder Der stalinistische Thermidor ], muss ihn der Zorn ergriffen haben.[5]

Stalin konnte nicht zulassen, dass er am Leben blieb. Das sowjetische Regime hat immense Mittel aufgewendet, um den letzten und größten lebenden Führer der Oktoberrevolution zu ermorden. Heute vor 83 Jahren wurde das Verbrechen schließlich begangen.

Die heutige Gedenkfeier wäre bereits völlig gerechtfertigt, wenn sie lediglich das Leben Trotzkis als überragende Figur der Geschichte der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts würdigen würde: Anführer der Oktoberrevolution neben Lenin, Befehlshaber der Roten Armee, Theoretiker der permanenten Revolution, größter Redner seiner Zeit, Autor literarischer und politischer Meisterwerke, unerbittlicher Gegner des Stalinismus und sozialistischer Visionär, der die Möglichkeit voraussah, dass sich alle Menschen auf ein intellektuelles, kulturelles und moralisches Niveau erheben könnten, das in der Vergangenheit nur die größten Genies erreicht hatten.

Trotzki ist jedoch mehr als eine historische Figur, deren Leben und Werk studiert wird, um die Vergangenheit zu verstehen. Mehr als 80 Jahre nach seiner Ermordung ist Trotzki immer noch außerordentlich aktuell. Seine Ideen sind – mehr als die jedes anderen politischen Führers des letzten Jahrhunderts – von ungebrochener Aktualität. Die Schriften Leo Trotzkis sind nach wie vor eine unverzichtbare Lektüre, nicht nur um die turbulenten Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Sie bieten einen maßgeblichen und unverzichtbaren Rahmen für das Verständnis der heutigen Realität.

Zu seinen Lebzeiten war Trotzki das Ziel einer unerbittlichen Kampagne von Lügen und Verleumdungen, die vom stalinistischen Regime und seinen weltweiten Satellitenparteien geführt wurde. Diese Lügen wurden bis zum Ende der UdSSR fortgesetzt. Von allen bedeutenden Führern der Oktoberrevolution, die von Stalin verfolgt und ermordet wurden, wurde allein Trotzki von den Sowjetregierungen nach Stalin nie „rehabilitiert“. Noch 1987, auf dem Höhepunkt der Glasnost, denunzierte Michail Gorbatschow Trotzki öffentlich als Feind der UdSSR und des Sozialismus. Dies wurde von Gorbatschow verkündet, just als er selbst die Restauration des Kapitalismus billigte und die Auflösung der Sowjetunion vorbereitete.

Nach der Auflösung der UdSSR wurden praktisch alle gegen Trotzki gerichteten Lügen der Stalinisten von Akademikern in Westeuropa und den Vereinigten Staaten übernommen. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale war gezwungen, viel Zeit darauf zu verwenden, die neue Welle von Verleumdungen Trotzkis durch die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung zu entlarven und zu widerlegen.

Professor Robert Service von der Universität Oxford brüstete sich nach der Veröffentlichung seiner verleumderischen Trotzki-Biographie damit, dass ihm ein zweites Attentat gelungen sei. Tatsächlich ist es Professor Service lediglich gelungen, seinen Ruf als Historiker zu ruinieren.

Um sowohl die zustimmende als auch die feindselige Leidenschaft zu erklären, die durch die bloße Erwähnung seines Namens hervorgerufen wird, habe ich festgestellt, dass es in Diskussionen über Trotzki nicht nur um die Vergangenheit geht. Sie beziehen sich ebenso auf gegenwärtige Ereignisse und nicht selten auf das, was in der Zukunft geschehen wird.

Der anhaltende Einfluss Leo Trotzkis ergibt sich aus der Tatsache, dass er die Probleme, Widersprüche und Krisen der historischen Epoche, in der wir heute noch leben, erkannt und in Angriff genommen hat – einer Epoche, die er als „Todeskampf des Kapitalismus“ bezeichnete. Trotz des enormen technischen Fortschritts ist die heutige Welt eine Welt, die Trotzki sehr gut verstehen würde.

Erstens hat er die größte Veränderung in der Weltpolitik seit seinem Tod im Jahr 1940 – die Auflösung der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus – vorausgesehen: als unvermeidliches Ergebnis der stalinistischen nationalen Wirtschaftsautarkie in Verbindung mit dem politischen Verrat des Kreml-Regimes.

Auf einer noch grundlegenderen Ebene wurde das zentrale Problem, das die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit gefährdet – der Widerspruch zwischen der globalen Verflechtung der Produktivkräfte in der Weltwirtschaft und dem Fortbestehen des kapitalistischen Nationalstaatensystems – von Trotzki bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts identifiziert. Trotzkis Analyse dieses Widerspruchs erlangte eine außergewöhnliche Schärfe und Präzision nach dem Ersten Weltkrieg, den er lediglich als Beginn einer Reihe von Eruptionen imperialistischer Gewalt ansah.

Protagonist dieser imperialistischen Gewalt, warnte Trotzki, sei die herrschende Klasse der Vereinigten Staaten und ihr Streben nach der Weltherrschaft. Die Dynamik des amerikanischen Kapitalismus konnte nicht innerhalb der nationalen Grenzen der Vereinigten Staaten eingedämmt werden. In Erwartung einer großen Wirtschaftskrise warnte Trotzki 1928 davor, dass eine solche Entwicklung den aggressiven Charakter des amerikanischen Imperialismus nicht mildern, sondern verstärken würde. Er schrieb:

Während der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken als während der Aufstiegsperiode. Die Vereinigten Staaten werden versuchen, ihre Schwierigkeiten und Krankheiten auf Kosten Europas zu bekämpfen und zu überwinden, ganz gleich, ob in Asien, Kanada, Südamerika, Australien oder Europa selbst, oder ob auf friedlichem oder kriegerischem Wege.[6]

Als er im Jahr 1931 das Weltgeschehen von Prinkipo aus beobachtete, warnte Trotzki:

Der amerikanische Kapitalismus ist in die Epoche eines ungeheuerlichen Imperialismus eingetreten, eines beständigen Wachstums der Rüstung, der Einmischung in die Angelegenheiten der ganzen Welt, militärischer Konflikte und Erschütterungen.

Drei Jahre später zog Trotzki dann diesen denkwürdigen und prophetischen Vergleich zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Imperialismus:

Der US-Kapitalismus steht vor denselben Aufgaben, die Deutschland 1914 zum Krieg getrieben haben. Die Welt ist bereits aufgeteilt? Dann muss man sie eben neu aufteilen! Deutschland ging es darum, Europa zu »organisieren«. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, die ganze Welt zu »organisieren«. Die Geschichte treibt die Menschheit einem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus entgegen.[7]

Trotzkis Prophezeiung ist die heutige Realität. Der von Trotzki vorhergesagte „Vulkanausbruch“ ist längst im Gange, und seine weißglühende Lava verschlingt den gesamten Erdball. Das wichtigste strategische Problem, mit dem sich die Führer des amerikanischen Imperialismus beschäftigen, ist die Berechnung der Anzahl der Kriege, die sie gleichzeitig führen können. Ist es möglich, fragt Biden seine Berater bei der CIA und im Pentagon, gleichzeitig Krieg gegen Russland und China zu führen, oder ist es ratsam, zuerst Russland zu zerstören und seine riesigen Bodenschätze zu plündern, bevor man mit fliegenden demokratischen Fahnen der Wall Street in einen Kreuzzug gegen China zieht?

Die ukrainische Tragödie ist nur der erste Schachzug in einem Konflikt, der zu einem dritten Weltkrieg zu eskalieren droht. Sich zum jetzigen Zeitpunkt Hoffnungen auf eine rationale Deeskalation der Krise zu machen, wäre reine Selbsttäuschung.

Vor dreißig Jahren verkündeten zahllose bürgerliche Politiker, Journalisten und Akademiker, dass mit der Auflösung der Sowjetunion eine neue Ära des Friedens, des Wohlstands und der Demokratie angebrochen sei. Ein besonders kühner Wahrsager namens Francis Fukuyama, der tief in seine Kristallkugel spähte, verkündete gar das „Ende der Geschichte“. Der Kapitalismus habe die Menschheit an den Endpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung gebracht, von dem aus kein weiterer Fortschritt mehr möglich sei.

Doch die Geschichte ging weiter, und zwar genau so, wie Trotzki es vorausgesehen hatte. Die letzten 30 Jahre werden in die Geschichte eingehen als Jahrzehnte des nicht enden wollenden Krieges, eines Wiederauflebens des Faschismus, wirtschaftlicher Katastrophen, schwindelerregender sozialer Ungleichheit, kulturellen Verfalls, einer weltweiten Pandemie, die Millionen Menschen das Leben gekostet hat, und sich rasch ausbreitenden Umweltkatastrophe.

Wir stehen heute genau vor der Situation, die Trotzki im Gründungsdokument der Vierten Internationale schilderte, das er 1938, nur ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, schrieb: Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe.

Die von Trotzki vorhergesagte Katastrophe ist tatsächlich eingetreten. Der schreckliche Tribut an Menschenleben, den der Zweite Weltkrieg forderte, wurde ausschließlich durch den damaligen Stand der Technik begrenzt.

Wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten verkünden, dass sie sich bei ihrem Vorgehen in der Ukraine nicht durch die Gefahr eines Atomkriegs bremsen lassen, kann das nur bedeuten, dass sie bereit sind, die Zerstörung des Planeten zu riskieren, um ihre Ziele zu erreichen.

Doch Trotzki prophezeite nicht den unausweichlichen Untergang. Er war der Stratege der sozialistischen Weltrevolution. Gerade die Widersprüche, die den Kapitalismus in die Katastrophe treiben, schaffen auch die Bedingungen für die sozialistische Weltrevolution. Seine Schriften und sein unermüdlicher Einsatz für den Aufbau der Vierten Internationale waren Ausdruck seiner Überzeugung, dass die internationale Arbeiterklasse eine revolutionäre Kraft ist, die über die Macht verfügt, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen und die Welt auf sozialistischer Grundlage neu aufzubauen.

Trotzki war davon überzeugt, dass das Schicksal des Sozialismus und damit der Menschheit vom Aufbau einer revolutionären Weltpartei abhängt, die sich auf ein wissenschaftlich fundiertes Programm stützt, tief in der Arbeiterklasse verwurzelt ist und die notwendige Entschlossenheit, den Mut und die Initiative besitzt, um mit dem historisch überholten kapitalistischen System abzurechnen.

Trotzki zweifelte nie an seiner Überzeugung, dass die Oktoberrevolution, die er an der Seite Lenins angeführt hatte, trotz all ihrer Entbehrungen und Wechselfälle nur der Beginn eines weltweiten Prozesses war, der zum Sieg führen würde. Es war notwendig, eine historische Perspektive zu wahren. So schrieb er in seiner Autobiografie:

[Die Oktoberrevolution] ist der Versuch einer neuen Gesellschaftsordnung. Dieser Versuch kann sich wandeln, umgestalten, vielleicht von Grund auf. Er wird auf dem Fundament der neuen Technik einen ganz anderen Charakter annehmen. Aber nach einigen Jahrzehnten und später, nach Jahrhunderten, wird die neue Gesellschaftsordnung auf die Oktoberrevolution ebenso zurückblicken, wie das bürgerliche Regime jetzt auf die Deutsche Reformation oder auf die Französische Revolution zurückschaut. Das ist so klar, so unbestreitbar, so unerschütterlich, daß es sogar die Geschichtsprofessoren begreifen werden, allerdings erst nach einer Reihe von Jahren.[8]

Heute, 90 Jahre nach seiner Abreise von Prinkipo und 83 Jahre nach seinem Tod, treffen wir uns auf dieser schönen Insel, um nicht nur einen großen Mann zu ehren, sondern aus seinem Werk neue Kraft und Inspiration zu schöpfen, um die Herausforderungen der globalen Krise des Kapitalismus und des internationalen Aufschwungs des Kampfs der Arbeiterklasse zu bewältigen.

Lassen Sie mich abschließend die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass die Villa, in der Trotzki lebte, vollständig restauriert und zu einem internationalen Zentrum für das Studium von Trotzkis umfangreichem politischen und theoretischen Erbe wird.

Mit einem solchen Projekt und der notwendigen internationalen Unterstützung wird Prinkipo nicht nur seinen Platz in der Weltgeschichte geltend machen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Zukunft der Menschheit leisten.


[1]

Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1990, S. 498

[2]

Ebd., S. 504 f.

[3]

Leo Trotzki, „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen“, in Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 66

[4]

Leo Trotzki, „Man muss von neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen“, in Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 311-12

[5]

Dimitri Wolkogonow: Stalin – Triumph und Tragödie, Düsseldorf 1989, S. 359-363

[6]

Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 29

[7]

Leo Trotzki, „Der Krieg und die IV. Internationale“, in: Schriften, Linke Opposition und IV. Internationale 1928–1934, Bd. 3.3, Köln 2001, S. 556

[8]

Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1990, S. 519

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