Perspektive

Der 8. Mai und die Rehabilitierung des Nationalsozialismus

Am 8. und 9. Mai finden in Berlin traditionell zahlreiche Gedenkveranstaltungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa statt. An diesen beiden Tagen hatte die deutsche Wehrmacht 1945 im französischen Reims und in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Damit war das Nazi-Regime endgültig zerschlagen. Adolf Hitler hatte bereits acht Tage vorher Selbstmord begangen.

Die Hauptlast des Kampfs gegen Hitler-Deutschland trug die Rote Armee der Sowjetunion, die die Wehrmacht unter immensen Opfern besiegte. Mindestens 13 Millionen sowjetische Soldaten und 14 Millionen Zivilisten verloren im Krieg das Leben. Doch auf den Berliner Gedenkveranstaltungen war in diesem Jahr das Zeigen der sowjetischen Fahne verboten. Der Berliner Senat bot mehr als 1500 Polizisten auf, um das Verbot an den drei sowjetischen Ehrenmalen im Treptower Park, im Tiergarten und in der Schönholzer Heide durchzusetzen. Teilweise waren dort mehr Polizisten als Besucher zu sehen.

Gedenken am 9. Mai 2014 am Ehrenmal am Treptower Park (AP Photo/Markus Schreiber) [AP Photo/Markus Schreiber]

Erlaubt war dagegen das Zeigen der ukrainischen Fahne, die im Zweiten Weltkrieg nur von Kollaborateuren verwendet wurde, die tief in die Verbrechen der Nazis verstrickt waren. So nutzte der Melnyk-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-M) die blau-gelbe Flagge mit einem Dreizack, wie er auch heute in der Ukraine wieder Verwendung findet.

Während die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Männer und Frauen gemeinsam mit ihren russischen und anderen sowjetischen Genossen in der Roten Armee gegen die Nazis kämpften, schlossen sich die OUN-M und der konkurrierende Flügel um Stepan Bandera (OUN-B) deutschen SS-Einheiten an und beteiligten sich an Massenmorden, denen zehntausende Juden, Polen, Russen und Ukrainer zum Opfer fielen.

Die Entscheidung, das Zeigen der sowjetischen Fahne auf den Gedenkveranstaltungen zu verbieten, traf in letzter Instanz das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Die Polizei hatte ursprünglich sowohl sowjetische und russische wie ukrainische Fahnen verboten und dies damit begründet, dass sie vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs Gewalt provozieren könnten. Das Berliner Verwaltungsgericht hob dieses Verbot aufgrund einer Klage wieder auf. Darauf entschied das Oberverwaltungsgericht auf Antrag der Polizei, nur die sowjetische und die russische Fahne zu verbieten und die ukrainische zuzulassen.

Die politische Bedeutung dieser Entscheidung ist unmissverständlich: 78 Jahre nach der Niederlage des Nazi-Regimes ist es in der deutschen Hauptstadt verboten, die Fahne der Befreier zu zeigen. Die Fahne von Kollaborateuren und Kriegsverbrechern ist dagegen willkommen. Ein deutlicheres Bekenntnis zur verbrecherischen Politik des Nazi-Regimes ist kaum denkbar.

Dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall oder um eine Entgleisung. Das skandalöse Verbot veranschaulicht, wie weit fortgeschritten die Verharmlosung der Nazi-Verbrechen in Deutschland ist. Kein einziges bedeutendes Medium und keine etablierte Partei hat es beanstandet.

Die Verharmlosung des Nationalsozialismus ist untrennbar mit der Rückkehr des deutschen Militarismus verbunden. Die IYSSE hatten bereits 2014 gewarnt: „Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus erfordert eine neue Interpretation der Geschichte, die die Verbrechen der Nazizeit verharmlost.“ Die Jugendorganisation der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) protestierte damals gegen den Historiker Jörg Baberowski, der im Spiegel den Nazi-Apologeten Ernst Nolte verteidigt und Hitler bescheinigt hatte, er sei „nicht grausam“ gewesen.

Inzwischen hat sich diese Warnung bestätigt. Schon damals hatten sich fast alle Medien, die Leitung der Humboldt-Universität sowie zahlreiche Politiker hinter Baberowski gestellt und die IYSSE denunziert, weil sie es gewagt hatten, den rechtsextremen Professor zu kritisieren. Inzwischen ist die enge Zusammenarbeit mit Rechten und Faschisten alltäglich, und das nicht nur in Deutschland, wo die AfD in allen wichtigen Parlamentsausschüssen sitzt, sondern auch in der Außenpolitik.

So stört sich im offiziellen Berlin niemand daran, dass das von Deutschland mit Milliardenbeträgen unterstützte und bewaffnete Selenskyj-Regime Denkmäler für Nazi-Kollaborateure und Massenmörder errichtet, zahlreiche Straßen nach ihnen benennt, das Land von russischer Kultur säubert (selbst Alexander Puschkin und andere Vertreter der Weltliteratur werden nicht verschont) und reihenweise linke Parteien verbietet.

Auch in den baltischen Staaten arbeiten Bundesregierung und Bundeswehr eng mit Kräften zusammen, die Mitglieder der Nazi-SS als Helden verehren.

Verfolgt man die kriegslüsterne Propaganda, mit der die Gehirne in Deutschland täglich behämmert werden, gewinnt man den Eindruck, große Teile der herrschenden Eliten bedauerten zutiefst, dass Hitler sein Ziel nicht erreicht hat, Moskau zu erobern und zu zerstören.

So drängt F.A.Z.-Journalist Konrad Schuller in einem langen Kommentar vom 7. Mai darauf, die Ukraine sofort in die Nato aufzunehmen und mit einem „nuklearen Schirm“ zu versehen. Er warnt vor einem „schmerzhaften Patt“, falls die angekündigte Offensive der Ukrainer erfolglos bleibe. Die „Wachsamkeit“ des Westens könnte dann nachlassen und „die Versuchung wachsen, knappes Geld lieber in andere Projekte zu stecken als in Waffen“.

Nachdem sich die Nato „für die Ukraine durch materielle und ideelle Hilfe schon sehr weit aus dem Fenster gelehnt“ habe, so Schuller, würden sich ihre feierlichen Versprechen als leere Worte entpuppen. „Die Verbündeten könnten dann auseinanderlaufen wie Hühner, wenn der Habicht kommt.“ Deshalb müsse die Ukraine viel mehr Geld und Waffen als jetzt bekommen.

Keine 80 Jahre nachdem große Teile Europas und Deutschlands in Trümmern lagen, sind Leute wie Schuller wieder bereit, ein nukleares Inferno zu entfesseln, um ihre imperialistischen Weltmachtphantasien zu befriedigen.

In Wirklichkeit hat sich die herrschende Klasse Deutschlands nie mit der Niederlage Hitlers abgefunden. Nach Kriegsende hatte es volle 40 Jahre gedauert, bis erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnete. Aber auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dessen Vater in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, hatte damals hinzugefügt: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“

Heute verbreitet Weizsäckers CDU über alle sozialen Medien, der 8. Mai 1945 sei zwar ein „Tag der Befreiung“, aber „auch ein Tag unermesslichen Leids“.

Unermesslichen Leids für wen, fragt man sich. Für die überlebenden KZ-Insassen? Für die wenigen Juden, die ihren Mördern entgangen waren? Für die Arbeiter, die sich nicht mit den Nazis arrangiert hatten und von der Gestapo bespitzelt und terrorisiert wurden? Für die Griechen, Jugoslawen, Polen und Sowjetbürger, deren Existenzgrundlage und Leben von den Nazis zerstört wurde? Für die jungen Männer, die in Uniformen gezwungen und an der Front verheizt wurden? Oder für die fetten Nazi-Schergen und Unternehmer, die sich an Arisierung und Zwangsarbeit bereichert hatten und nun um ihr Vermögen fürchteten – das ihnen leider erhalten blieb.

Als der Historiker Ernst Nolte 1986 einen ersten Anlauf unternahm, den Nationalsozialismus zu rehabilitieren, erlitt er im Historikerstreik eine verheerende Niederlage. Als Baberowski 2014 Nolte verteidigte, rannte er bereits offene Türen ein. Heute würde Nolte, wäre er noch am Leben (er starb 2016), mit Preisen überhäuft.

Die Rehabilitierung des Nationalsozialismus hat objektive Ursachen. Der deutsche Imperialismus ist mit denselben unlösbaren Widersprüchen konfrontiert wie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Und er versucht sie mit denselben barbarischen Methoden zu lösen.

Eingezwängt im zersplitterten Europa benötigte die dynamische deutsche Wirtschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dringend Rohstoffe, Investitionsmöglichkeiten und Absatzmärkte. Aber diese waren bereits unter den alten Kolonialmächten aufgeteilt. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Deutschland deshalb gegen Frankreich, Großbritannien und das Zarenreich, das mit Frankreich verbündet war und mit seinen gewaltigen Flächen große Expansionsmöglichkeiten bot.

Doch Deutschland verlor den Krieg. Statt des Siegs kam die Revolution, die der deutsche Kapitalismus nur mithilfe der SPD überlebte. Eigentlicher Sieger des Kriegs war eine andere aufsteigende Macht: die USA.

Der Zweite Weltkrieg war ein ins Gigantische gesteigerter Versuch, das Ergebnis des ersten zu korrigieren. Deutschland versuchte, Europa unter seine Herrschaft zu bringen und die Sowjetunion zu zerschlagen, um die Weltmacht USA herausfordern zu können. Zu diesem Zweck brachte eine Verschwörung um Reichspräsident Paul von Hindenburg mit Unterstützung führender Wirtschafts- und Militärkreise im Januar 1933 Adolf Hitler an die Macht. Sein Regime hatte zwei Aufgaben: Die gewaltsame Zerschlagung der Arbeiterbewegung, die Krieg und Militarismus ablehnte, und die Konzentration aller Kräfte des Landes auf Aufrüstung und Krieg.

Doch Deutschland verlor auch den Zweiten Weltkrieg. Der deutsche Kapitalismus überlebte, auch weil ihn die USA als Bollwerk gegen die Sowjetunion brauchten. In den Nachkriegsjahrzehnten gedieh und expandierte er im Windschatten des US-Imperialismus. Doch das änderte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Seither verschärfen sich die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten.

Die USA versuchen, ihren wirtschaftlichen Niedergang durch einen brutalen Krieg nach dem anderen auszugleichen. Die deutsche Regierung unterstützt diese Kriege teils offen, teils indirekt, um zur europäischen Führungsmacht und zur Weltmacht aufzusteigen. Ein Tag nach Beginn des Ukrainekriegs hat sie die größte Aufrüstungsoffensive seit 1945 gestartet. Wie die USA eskaliert sie ihren Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine unaufhörlich und schreckt sogar vor der nuklearen Vernichtung nicht zurück.

Das erklärt den veränderten Blick auf Hitler, dessen wütendem Hass auf die Sowjetunion, den Marxismus und die organisierte Arbeiterbewegung nun wieder positive Seiten abgewonnen werden.

Vor allem Teile der wohlhabenden städtischen Mittelklasse, die sich in den vergangenen Jahren am Aktien- und Immobilienboom bereichert haben, während die Einkommen der Arbeiter sanken, haben Gefallen am Imperialismus gefunden. Das erklärt die Verwandlung der Grünen, die sich anfangs antifaschistisch und pazifistisch gaben, in glühende Militaristen.

Die Gefahr eines nuklearen Weltkriegs kann nur durch eine unabhängige Bewegung der internationalen Arbeiterklasse gestoppt werden, die den Kampf gegen soziale Ungleichheit und Krieg mit dem Kampf gegen ihre Ursache, den Kapitalismus, verbindet. Dieselben unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus, die die herrschende Klasse in den Krieg treiben, schaffen auch die Voraussetzungen für die sozialistische Revolution.

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